MeToo: „Die Täter ziehen einfach weiter“

Immer wieder erschüttern Fälle von Machtmissbrauch die Medienbranche. Rechtsanwältin Julia Viohl ist auf interne MeToo-Ermittlungen spezialisiert. Ein Gespräch über Machtstrukturen und das frappierende Selbstbewusstsein mancher Täter.

Interview: Antonia Groß

Nach Jahren der Berichterstattung über #metoo mussten inzwischen auch einige Medienhäuser den Blick nach innen richten. Für große Aufmerksamkeit sorgte 2021 der Fall des damaligen „Bild“-Chefredakteurs Julian Reichelt, zuletzt gab es mehrere Fälle bei der Schweizer Tamedia-Gruppe. Der öffentliche Umgang mit Machtmissbrauch und Diskriminierung hat sich jedoch geändert, seit vor sechs Jahren in Hollywood die ersten #metoo-Fälle bekannt wurden. Teilweise wird das gesellschaftliche Urteil über Sexismus und sexuelle Gewalt schärfer, die Aufmerksamkeit liegt heute eher auf den Geschichten der Betroffenen, Täter müssen sich häufiger verantworten als noch vor wenigen Jahren 

Diese gesellschaftlichen Veränderungen liest Julia Viohl auch an der Rechtsprechung ab. Mehr Urteile würden im Sinne der Betroffenen gefällt, sagt die 39-jährige Rechtsanwältin. Sie ist Partnerin in der Berliner Kanzlei Vangard Littler und auf interne Ermittlungen in Unternehmen spezialisiert. In den vergangenen Jahren hat sie zahlreiche Fälle betreut, bei denen es um sexuelle Belästigung und Machtmissbrauch ging.

Frau Viohl, in unserem Vorgespräch haben Sie bemerkt, dass es in der Medienbranche bisher vergleichsweise wenige bekannte Fälle gibt. Warum sind die Medien so langsam, wenn es um sie selbst geht? 

Julia Viohl: Es ist in der Medienbranche besonders schwierig, Fuß zu fassen. Die Leute müssen durch Volontariate, es gibt oft nur befristete Verträge, die Jobs sind nicht so sicher. Man ist oft von Empfehlungen abhängig. Und es gibt ein stärkeres Hierarchiesystem als in anderen Branchen. Vor diesem Hintergrund kann ich mir gut vorstellen, dass sich Betroffene oft nicht trauen, offen zu sprechen. Dazu kommt leider, das ist aber ein allgemeines Problem, dass gerade die Opfer nach einer Beschwerde einen Makel mit sich tragen. Nicht selten wird über die Betroffenen getuschelt. So dass sie lieber den Job wechseln, oder hoffen, dass der Täter geht, als sich zu beschweren. Viele Menschen haben Angst, dass so eine Geschichte ihrem Ruf schadet.

Julia Viohl (39) ist Partnerin in der Berliner Kanzlei Vangard Littler und auf interne Ermittlungen in Unternehmen spezialisiert. 

Sie sagen also, dass eher die Betroffenen von den Spuren eines Übergriffs markiert bleiben als die Täter? 

Nicht eher, aber auch. Das dürfte natürlich gar nicht sein. Die Opfer tragen das auch nicht offiziell mit sich, es steht ja nicht im Arbeitszeugnis. Aber weil Leute gerne tratschen, betrifft diese Zurückhaltung gerade Branchen, in denen auf Reputation und Empfehlungen viel Wert gelegt wird. Da möchte man lieber durch professionelle Erfolge auffallen als durch Kritik am System.

Wenn Fälle öffentlich werden, fallen oft zwei Begriffe: Machtmissbrauch und sexuelle Belästigung. Wie wird da juristisch unterschieden? 

Machtmissbrauch muss nicht unbedingt eine sexuelle Komponente haben. Man kann auch auf andere Weise Macht und Druck ausüben. Und auch, wenn ein Machtmissbrauch sexuelle Bestandteile hat, haben die oft nichts mit sexuellem Interesse zu tun. Die Macht innehabende Person weiß einfach, dass Sexualität mit das Empfindlichste eines Menschen ist, und nutzt das aus. Ich hatte mal einen Fall, in dem eine heterosexuelle weibliche Vorgesetzte ihre ebenso heterosexuellen weiblichen Untergebenen belästigt hat. Sie hat einer mit dem Finger in den Busen gepiekt, und der anderen einen Klaps auf den Hintern gegeben. Begleitet von den Worten „Jetzt habt euch nicht so!“. Die Vorgesetzte hatte hier kein sexuelles Interesse an den Frauen. Sie hat sie dennoch sexuell belästigt, um ihre Macht zu demonstrieren.

Woher wussten Sie, dass die Vorgesetzte nicht auch ein sexuelles Interesse hatte?

Das wurde durch die Befragung der beiden betroffenen Frauen klar. Die Vorgesetzte hatte sonst keinerlei Anzeichen gezeigt, dass sie ein irgendwie geartetes sexuelles Interesse an den Mitarbeiterinnen hatte. Doch es spielt keine Rolle, ob ein sexuelles Interesse besteht oder nicht. Es ist nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ausreichend für eine sexuelle Belästigung, wenn man an primären oder sekundären Geschlechtsmerkmalen berührt wird. Da in diesem Falle die eigene Sexualität betroffen ist. Auch wenn eine Vorgesetzte ein sexuelles Interesse an einer untergeordneten Person hat und weiß, dass sie durch ihre Machtposition im Unternehmen diese Person zu sexuellen Äußerungen oder Handlungen bringen kann, ist das Machtmissbrauch mit sexueller Belästigung. Weil sich die betroffene Person entweder nicht traut, Nein zu sagen, oder hofft, dadurch aufzusteigen.

Ich erinnere mich an Diskussionen zu solchen Fällen, in denen manche das Opfer gern mit zur Verantwortung gezogen hätten. Mit dem Argument, sie hätte doch mitgemacht, oder gar beruflich „profitiert“. 

Dieses Argument höre ich besonders oft von Männern. Dann frage ich mich: Wenn eine Volontärin, die gerade frisch aus der Uni kommt, vielleicht ihre erste Stelle hat, der Chefredakteur findet sie heiß, will mit ihr ins Bett, und sie sagt dazu nicht Nein, ist sie dann wirklich frei in ihrer Entscheidung? Hat sie dann freiwillig Ja gesagt? Ich will nicht ausschließen, dass es auch Fälle gibt, in denen Unterstellte freiwillig eine Beziehung mit Vorgesetzten eingehen. Aber es gibt genug Fälle, in denen Menschen Dinge mitmachen, die sie eigentlich nicht wollen. Man muss sich deshalb das Hierarchiegefüge genau anschauen. 

(…)


Wie Machtmissbrauch juristisch bewertet werden kann, warum die aktuellen Sanktionsinstrumente nicht ausreichen und was Arbeitgeber und Betroffene tun können, lesen Sie im vollständigen Interview mit Julia Viohl, das in Medium Magazin 02/23 erschienen ist. Hier geht’s zur Ausgabe. 

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