„Es ist fünf vor zwölf“

Verleger Valdo Lehari jr., seit langem engagiert in europäischen Medienfragen, sorgt sich um die Pressefreiheit in Europa. Aber freut sich über den Copyright-Beschluss des europäischen Parlaments. Hier im Interview mit Frank Stier.

„Der sogenannte Westen ist auch nicht gerade vorbildlich“, sagt Valdo Lehari jr.. (Foto: Thomas Kausch)

 

Herr Lehari, warum kümmern Sie sich nicht einfach nur um Ihre Tageszeitung, sondern auch um EU-Verbandsarbeit?

Valdo Lehari jr.: Ich habe mich immer engagiert, schon in der Schulzeit als Schulsprecher. Und während meines Jura-Studiums habe ich mich mit Fragen der Pressefreiheit sowie des verfassungsrechtlichen und medienpolitischen Zugangs der Verleger zum privaten Rundfunk befasst. Seit Mitte der 1970er-Jahre bin ich also medienpolitisch aktiv. Eine Rolle spielt natürlich auch die Geschichte meiner Familie. 1939 wurden meine Großeltern gezwungen, den „Reutlinger General-Anzeiger“ Hitler zu übergeben.

 

2018 haben Sie zwei Mal an Konferenzen zur Medienfreiheit in Bulgariens Hauptstadt Sofia teilgenommen. Kannten Sie zuvor bereits die Situation auf dem Balkan?

Das war mir nicht neu. Ich setze mich ja bereits als ENPA-Präsident seit 2005 mit der Problematik auseinander. Mit der Verabschiedung eines Gesetzes zum Schutz klassifizierter Informationen im Jahr 2007 in Tschechien begann sich die Situation der Medien in vielen osteuropäischen Ländern zu verschlechtern. Schon damals habe ich vor dieser Entwicklung gewarnt. Sie dauert bis heute an und verschärft sich. Gerade weil ich über die negative Entwicklung der Medienfreiheit in den osteuropäischen EU-Mitgliedsländern gut informiert war, habe ich zusammen mit dem Verband der Herausgeber in Bulgarien (SIB) die Konferenz am Vorabend des großen EU-West- Balkangipfels in Sofia initiiert. Künftig wollen wir solch eine Konferenz jährlich veranstalten, vielleicht um den 3. Mai herum und an verschiedenen Orten.

 

Was wollen Sie damit bewirken?

Es ist fünf Minuten vor zwölf, was die Gefährdung für die Pressefreiheit und den Qualitätsjournalismus angeht. Wir müssen dringend intelligente und zügige Maßnahmen ergreifen, um Pressefreiheit und ein funktionierendes Pressewesen als existenzielle Eckpfeiler der demokratischen Gesellschaft zu stärken. Dies betrifft keineswegs nur den Balkan und das östliche Europa. Denken wir auch an Italien, wo mit Berlusconi der Eigner der meisten Medien Regierungschef wurde und Politik zur TV-Show gemacht hat. Etwas Ähnliches erleben wir nun in Trumps Amerika. Mit unserer Sofioter Deklaration reagieren wir auch auf diese internationale Entwicklung.

Insofern ist der sogenannte Westen auch nicht gerade vorbildlich. Die Ursache der politischen Radikalisierung sowie des Ge- und Missbrauchs von Pressefreiheit durch einzelne Personen im Grenzbereich zum Strafrecht und in stark veränderter Form der verfassungsrechtlichen Interpretation von Pressefreiheit liegt im Wertevakuum in einigen EU-Mitgliedsländern nach der Wende.

 

Die TV-Journalistin Ginka Schinkerova zeigt bei einer Journalistendemonstration vor dem Ministerrat in Sofia ein Foto ihres nach einem Anschlag ausgebrannten Autos. (Foto: F. Stier)

 

Die Konferenz in Sofia diskutierte zwei mögliche Strategien zur Verteidigung der Pressefreiheit: die Idee von EU-Kommissar Günther Oettinger, EU-Subventionen an die Respektierung europäischer Werte zu knüpfen, sowie eine mögliche Verankerung des Schutzes der Pressefreiheit im EU-Vertrag. Wie stehen Sie dazu?

Oettingers Vorschlag, die Vergabe europäischer Gelder an die Respektierung europäischer Werte zu binden, ist bedenkenswert. Allerdings hat er die Kehrseite, dass die Menschen in den betroffenen Ländern unter einer Sperrung von Subventionen möglicherweise leiden würden. Den EU-Vertrag zu verändern, wäre sicherlich eine zu langwierige Angelegenheit, denn das würde viele Jahre dauern und braucht Einstimmigkeit. Besonders die Situation der Presse ist in einigen EU-Mitgliedsländern problematisch, sowohl was das Funktionieren einer pluralistischen Medienlandschaft als auch die freie journalistische Tätigkeit betrifft. Die Ursachen sind uns allen bekannt und vielfältig. Wir müssen jetzt diskutieren, was wir in der nächsten Zeit tun können. Denn die Zukunft der Pressefreiheit ist die Zukunft der Gesellschaft und für mich persönlich die Zukunft der EU.

Teilen Ihre deutschen Verlegerkollegen Ihre Befürchtungen zur aktuellen Bedrohung der Medienfreiheit in Europa?

Bei meinen Gesprächen mit den deutschen Kollegen stelle ich ganz klar ein Problembewusstsein fest, das über die eigene nationale Lage hinausgeht. Dies gilt in erster Linie für den Präsidenten des Bundesverbandes Deutscher Zeitungsverleger (BDZV), Mathias Döpfner, mit seinem unternehmerischen Engagement in Osteuropa. Aber auch das Präsidium und die Mitglieder kennen die Sorgen in der Zeitungsbranche bei unseren Freunden in Europa. Eine solch mediale Landschaft wie in Deutschland mit rund 300 Tageszeitungen gibt es in vielen Ländern Europas nicht. Diese Vielfalt gilt es zu erhalten. Die Zahl der vielen kleineren und mittleren Zeitungsverlage hängt auch – neben den Familieneigentümerstrukturen und den Neugründungen nach 1945 – mit dem lokalen Einzelhandel zusammen auch als weiteres Element der wirtschaftlichen Basis. Hier sehe ich große Unterschiede und Defizite im Vergleich zu Osteuropa.

Was können Verbände wie die ENPA tun, um gegen die wachsende Bedrohung der Medienfreiheit in Europa anzugehen?

Eine jährliche Konferenz in dem Format wie in Sofia kann zunächst das Bewusstsein für die Gefährdung der Pressefreiheit, die Notwendigkeit von Qualitätsjournalismus und die Rahmenbedingungen für wirtschaftlich gesunde und unabhängige Verlage in der Bevölkerung und bei der Politik wachhalten. Die Sofioter Konferenz war eine Auftaktveranstaltung und die Sofioter Erklärung ein Weckruf, um die Notwendigkeit eines verstärkten Engagements zu betonen. Die eigentliche Arbeit steht nun bevor.

Und was soll nun konkret geschehen?

Wir sondieren derzeit mit den anderen Initiatoren der Sofioter Deklaration, wie der angekündigte Media Freedom Advocacy Fund zu strukturieren ist. Wir wollen ihn mit eigenen Finanzmitteln ausstatten, rechnen aber auch mit finanzieller Unterstützung durch die EU. Laut EU-Kommissar Günther Oettinger geht es derzeit um die Eckdaten zum EU-Haushalt 2020 bis 2027, doch müssen die Details insbesondere auch zur Kultur und anderen weichen Themen noch ausverhandelt werden. Erst dann werden wir wissen, mit welchen EU-Geldern wir rechnen können. Grundlage da- für muss aber eine verlässliche Projektierung und Konzeption sein, daran arbeiten wir gerade. Außerdem haben wir seit Anfang Oktober bei der ENPA mit Ilias Konteas einen neuen Direktor: Er wird mit den anderen Partnern und Nichtregierungsorganisationen auch Seminare und Workshops, Stipendien und Austauschprogramme organisieren und koordinieren. Mit deren Ausgestaltung haben wir uns bei unserer jüngsten ENPA-Leitungssitzung befasst. Und wir fokussieren uns derzeit stark auf das Thema Leistungsschutzrechte, das ganz wesentlich ist für Pressefreiheit und Qualitätsjournalismus.

Wie bewerten Sie da die Entscheidung des EU-Parlaments in der Copyright-Frage?

Die Entscheidung am 12. September war eine Sternstunde im Parlament, denn die große Mehrheit der Abgeordneten hat sich nicht negativ beeinflussen lassen durch die massive und auch schockierende Desinformationskampagne der Gegner. So etwas habe ich noch nicht erlebt in meiner bisherigen Verbandsarbeit: Die Kampagne ging sogar bis hin zu Morddrohungen gegenüber Abgeordneten, die zum Teil auch von Tausenden Fakemails im Stundentakt geflutet wurden – getarnt als Wählermails aus den jeweiligen Wahlkreisen. Letztendlich ist es eine historische Entscheidung für die Pressefreiheit, Demokratie und den Qualitätsjournalismus in Europa. Es geht schließlich um die Lizenzierung der gewerblichen Nutzung unserer Inhalte durch Großkonzerne und ausdrücklich nicht um eine sogenannte Linksteuer oder um ein Verbot der privaten Verlinkung. Eine individuelle, private Nutzung ist nach wie vor ausdrücklich erlaubt in der jetzt beschlossenen Fassung im Parlament.

Und wie schätzen Sie die Rolle der Europäischen Kommission ein, wenn es um die Stabilisierung der Medienfreiheit in den EU-Ländern geht?

Die EU ist historisch als wirtschaftliche und politische Gemeinschaft konstituiert und als Wertegemeinschaft ist ihre institutionelle Möglichkeit eher begrenzt. Wir sollten uns daran erinnern, was in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geschah. Die wirtschaftliche Gesundung dort und die Rückkehr zur sozialen Normalität in Freiheit und Rechtsstaatlichkeit war keineswegs nur eine Frage der finanziellen Hilfe der Westalliierten. Vielmehr fand ergänzend ein Transfer an Ethik, Moral und Werten, basierend auf Grundrechten, statt. Im EU-Erweiterungsprozess der vergan- genen 15 Jahre wurde dies teilweise versäumt. Wir haben den europäischen Binnenmarkt erweitert und uns über die neugewonnenen Freunde gefreut. Wir haben die Diskussion über die Werte versäumt. Machen wir uns klar, dass die politische Radikalisierung und ein Wegfall von gutem Qualitätsjournalismus auch zu einer Destabilisierung in der EU führen kann. Insofern muss die EU auch Regeln finden für schlechte Zeiten und zum Selbstschutz. Vergessen wir nicht den Europarat, den ich manchmal vermisse.

 

Frank Stier ist freier Journalist für Südosteuropa in Sofia.

 


Das Interview mit Valdo Lehari jr. mit einem Hintergrundbericht von Frank Stier zur Lage der Medien in Osteuropa („Morde, Filz und Drohungen“) 
ist in der Zukunftsausgabe „medium magazin“ 06/2018 erschienen. Weitere Themen darin u.a.: der große Generationendialog „Was hat Zukunft“, „Journalismus der Dinge“, Change-Anforderungen an Journalisten, die Debatte um die Nationalitätennennung von Tätern in Berichten, Blockchain-Modelle für Medien, Wolf Schneiders neue Sprachkritik, Special Umwelt & Nachhaltigkeit mit dem Schwerpunkt „Nature Writing“ sowie eine 16-seitige Werkstatt „Erfolgreich gründen“. Das Heft ist digital (per Sofortdownload) und gedruckt im Shop sowie digital im iKiosk verfügbar.