#MeToo: Was ist eigentlich privat?

Immer wieder führen Fälle von MeToo zu brancheninternen Debatten über zulässige Verdachtsberichterstattung. Wie berichtet man also über Vorwürfe des Macht­missbrauchs und sexueller Gewalt? 

Text: Charlotte Theile (erschienen in mm 02/22)

Es ist gar nicht lange her, da galt in Redaktionen eine Art Ehrenkodex. Wer über Politikerinnen, Schauspieler, Unternehmerinnen oder Comedians berichtete, klammerte weiträumig aus, was unter „Privatleben“ verstanden wurde. So war es selbstverständlich, dass weder die Geliebten von französischen Präsidenten noch die Gerüchte, die sich um manche Theaterregisseure, Modelagenten oder Fotografen rankten, zum Gegenstand von Recherchen oder Titelgeschichten wurden. Natürlich, der Boulevard interessierte sich für das Babybäuchlein auf dem roten Teppich oder die neue Freundin eines Spitzensportlers. Doch die Geschichten blieben an der Oberfläche. Wie der Spitzensportler zu Hause mit seiner Freundin umging, war nie ein Thema. 

Für viele Redaktionen war dies nicht nur eine Frage des guten Geschmacks, sondern auch eine von Respekt und Relevanz. Was in der Sphäre des Häuslichen – oder spätabends an einer Hotelbar – geschah, wurde fein säuberlich von dem getrennt, was im öffentlichen Raum stattfand. Wer dies anders sah – und zum Beispiel einen Schriftsteller, der sich auf großer Bühne für die Rechte von Frauen einsetzte, mit seinem privaten Umgang mit Frauen konfrontieren wollte –, galt als Moralist. Als jemand, der nicht zwischen Geschäftstermin und Feierabend unterscheiden kann, als sauertöpfisch, bierernst, unlustig.

Luke Mockridge auf der Bühne: Nach einem Bericht des „Spiegel“ im Herbst 2021 sagte der Comedian alle Termine ab. Inzwischen ist er wieder auf Tour. (Foto: Jens Niering/2019):

Unterdessen hat sich das radikal geändert. Die Enthüllungen um den amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein haben Journalisten in der ganzen Welt erschüttert – und nicht nur in den USA, wo die Vorwürfe, Weinstein solle unzählige Frauen belästigt und vergewaltigt haben, Ende 2017 von der „New York Times“ und dem Magazin „The New Yorker“ veröffentlicht wurden, eine Welle an investigativen Recherchen losgetreten. 

Auch im deutschsprachigen Raum kamen in der Folge zahlreiche Redaktionen zu dem Schluss, dass Machtmissbrauch, sexuelle Nötigung, Gewalt und verbale Herabsetzung mit Humor wenig zu tun haben – und oft auch nicht besonders privat daherkommen. Das „Zeit-Magazin“ etwa machte 2018 zahlreiche Berichte von Frauen öffentlich, Schauspielerinnen, die Filmregisseur Dieter Wedel sexuell genötigt und vergewaltigt haben soll – oft während laufender Filmprojekte. 

Jede Redaktion wollte plötzlich eine #MeToo-Story 

Nach #MeToo recherchierten Dutzende Investigativ-Teams in Deutschland, Österreich und der Schweiz – Berichte über zudringliche Chefredakteure, Ärzte, Trainer, Professoren werden gedruckt und gesendet. „Es war eine Zeit, die ich fast als ‚MeToo-Enthemmung‘ beschreiben würde“, erinnert sich die freie Reporterin Pascale Müller, die selbst zahlreiche Recherchen im Bereich sexualisierte Gewalt zu Papier gebracht hat, unter anderem im „medium magazin“. „Jede Redaktion wollte eine Geschichte haben – aber kaum jemand wusste, was es für diese Recherchen braucht. Die kann man nicht aus dem Boden stampfen, weil es nachrichtlich gut passt. Sie brauchen Geduld, Sorgfalt – und mehr Zeit, als Redaktionen sich vorstellen können.“ Oft genug komme es vor, dass man einen Text gar nicht bringen könne – weil eine Quelle Angst bekommt, weil die Rechtsabteilung Zweifel anmeldet, weil die Chefredaktion plötzlich findet, das könne man so nicht bringen. 

Außerdem dämmerte vielen Redaktionen, dass die Geschichten oft weniger eindeutig sind als jene von Harvey Weinstein. Dass man es nicht nur mit Vier-Augen-Delikten zu tun hat, in denen Beweise naturgemäß schwerfallen, sondern auch mit Beziehungen, die auf viele andere Arten kompliziert sein können. „Man bewegt sich da oft in einem Graubereich, wo man genau hinschauen muss: Was ist wirklich im Einverständnis beider Seiten geschehen? Hat ein bestimmtes Verhalten System?“ Das erzählt „Spiegel“-Redakteurin Ann-Katrin Müller.

Gemeinsam mit Kollegin Laura Backes hatte Müller im Herbst 2021 einen Artikel veröffentlicht, der sich mit dem 33 Jahre alten Comedian Luke Mockridge beschäftigt. Mockridge, zu dem Zeitpunkt einer der bestverdienenden Comedians in der Branche, war zuvor in zahlreichen Podcasts und auf Social Media vorgeworfen worden, seine Ex-Freundin, die Podcasterin Ines Anioli, vergewaltigt zu haben – und darüber hinaus im Umgang mit Frauen immer wieder übergriffig geworden zu sein. Die Recherchen von Müller und Backes schienen dieses Bild zu bestätigen. Mehr als zehn Frauen – darunter Ines Anioli und eine weitere Ex-Freundin von Mockridge – zeichnen in dem Artikel das Bild eines Mannes, der „aggressiv“ und „rücksichtslos“ vorgeht, „selbst auf halb öffentlichen Veranstaltungen die Kontrolle verliert, kein ‚Nein‘ akzeptiert“. Die Vorwürfe gegen Mockridge waren zuvor bereits auf Social Media und in Podcasts laut geworden – auch der Comedian selbst hatte dazu auf Instagram Stellung genommen. Er bestreitet sämtliche Vorwürfe. 

Luke Mockridge, der von der Berliner Kanzlei Schertz Bergmann vertreten wird, ging gegen diesen Artikel vor – und bekam vor dem Oberlandesgericht in Hamburg in vielen Punkten recht. Der „Spiegel“ hat angekündigt, den Fall bis zum Bundesgerichtshof weiterzuziehen. Die endgültige rechtliche Bewertung steht also bis heute aus. 

Sie könnte eine Grundsatzentscheidung werden. Denn der Fall Mockridge zeigt sehr genau, welche Fragen im Investigativjournalismus im Moment verhandelt werden – und wie künftig mit #MeToo-Fällen und Privatsphäre umgegangen werden wird.

Vor Gericht beendet – in der Öffentlichkeit nicht

Für Mockridges Anwalt Simon Bergmann ist klar: Der Artikel im „Spiegel“ greift auf unzulässige Art und Weise in die Intimsphäre seines Mandanten ein. Außerdem ist Bergmann überzeugt: Die Vorwürfe, die Müller und Backes zusammengetragen haben, seien unbewiesen und „größtenteils Bagatellen, die weit zurückliegen“. Den schweren Vorwurf der versuchten Vergewaltigung, den Ines Anioli erhebt, könne man damit nicht belegen. 

Im Jahr 2020 hat eine Staatsanwaltschaft den Fall geprüft und entschieden, das Verfahren einzustellen. Und auch keine der anderen Frauen, die im „Spiegel“ zitiert werden, will Mockridge vor Gericht belangen. „Spiegel“-Redakteurin Ann-Katrin Müller glaubt, dass #MeToo-Berichte wie jener über Mockridge trotzdem an die Öffentlichkeit gehören. „Die Fragen, die wir uns als Journalistinnen stellen, sind zum Beispiel: Wie viel Macht hat eine Person? Wie gravierend sind die Vorwürfe? Wie wahrscheinlich ist es, dass ein bestimmtes Verhalten weitergeht?“ Dabei gehe es weniger um Prominenz als um tatsächlichen Einfluss: „Auch ein Chefarzt oder ein Polizeidienststellenleiter kann sehr mächtig sein.“ Im Fall Mockridge habe vor allem das Argument „Machtmissbrauch“ den Ausschlag gegeben. „Mockridge und sein Management haben offenbar versucht, die Karriere von Ines Anioli zu zerstören, dafür zu sorgen, dass sie in der Medienbranche keinen Fuß mehr auf den Boden bekommt. Außerdem haben wir erlebt, dass viele aus der Comedy-Branche Angst hatten, über Mockridge zu sprechen – beziehungsweise sich namentlich zu ihm zu äußern.“ 

Ann-Kathrin Müller (Der Spiegel): „Die Fragen, die wir uns als Journalistinnen stellen, sind zum Beispiel: Wie viel Macht hat eine Person?“

Auch die schiere Zahl an Betroffenen habe einen Einfluss gehabt. „Wir hatten mehr als zehn Frauen, die uns detailliert Auskunft gegeben haben. Insgesamt aber hatten wir noch Kontakt mit deutlich mehr Frauen, von denen manche dann zurückgezogen haben, aus Angst. Da vieles, was sie schilderten, auch noch nach den öffentlichen Anschuldigungen von Anioli geschehen sein soll, war das ein Indiz, dass es weiterhin übergriffiges Verhalten gibt.“ 

Die Kriterien, die Müller nennt, sind vom amerikanischen Medieninstitut Poynter 2017 ausführlich festgehalten worden. Sie liefern eine Handreichung für Journalisten, die sich fragen, wie sie mit den Aussagen von Opfern umgehen sollen – und wie man sicherstellt, dass man es nicht mit einer gefälschten Story zu tun hat. Denn die gibt es. Ann-Katrin Müller sagt, sie habe „immer ein schlechtes Gefühl“, wenn jemand mit großem „Belastungseifer“ an sie herantrete. „Wenn ich das Gefühl habe, es könnte um Rache gehen, dann machen wir es nicht.“

Wie groß ist der Schaden für Beschuldigte?

Je weniger Quellen es gibt und je schwieriger es wird, deren Berichte durch unabhängige Dritte zu überprüfen, desto mehr spricht gegen eine Veröffentlichung. Im November 2014 etwa veröffentlichte der „Rolling Stone“ eine Geschichte mit dem Titel „A Rape on Campus“. Eine ebenso berührende wie brutale Erzählung, die Schreckliches über das Verhalten von jungen Männern in Studentenverbindungen zu enthüllen schien – und Demonstrationen an Universitäten in ganz Amerika zur Folge hatte. Das Problem war nur: Die Reporterin des „Rolling -Stone“ hatte sich allein auf die Aussage der angeblich vergewaltigten Studentin verlassen – ein Anruf, und sie hätte gewusst, dass in der angeblichen Tatnacht keine Party in der Studentenverbindung stattgefunden hatte. 2015 zog der „Rolling -Stone“ die Geschichte zurück – und zahlte mehr als eine Million Dollar Wiedergutmachung an die zu Unrecht beschuldigte Studentenverbindung. 


Dieser Beitrag stammt aus Ausgabe 02/22. Die aktuelle Ausgabe 02/23 mit einer Recherche zu Funke-Chefin Julia Becker, einem Praxis-Special zu KI-Tools für Medienprofis, dem Dossier „Macht“ sowie ganz viel Nutzwert für die journalistische Berufspraxis ist ab sofort digital oder als Printausgabe hier erhältlich oder im ikiosk

 

 

 


Für eine Einzelperson wie Luke Mockridge sei der Schaden noch ungleich größer, argumentiert Medienanwalt Simon Bergmann. Sein Mandant sei – ähnlich wie der Schweizer Wettermoderator Jörg Kachelmann – öffentlich mit Vorwürfen gebrandmarkt worden, die er kaum wieder loswerden könne. Auch wenn Mockridge, der sich nach dem Bericht zunächst zurückgezogen hatte, unterdessen wieder auf Tour ist, bleiben schwere Anschuldigungen wie diese oft lebenslang bestehen. Gerade in Zeiten von Social Media sei es unmöglich, sie wieder aus der Welt zu schaffen. Für Mockridge sei das eine „große Belastung“, sagt sein Anwalt – und fügt hinzu: Es gehe ihm um juristische Fairness, nicht um Mitleid. „Die Unschuldsvermutung ist ein Grundprinzip von Demokratie und Rechtsstaat“, sagt Bergmann. „Wenn man eine solche Reichweite hat wie der ,Spiegel‘ – dann hat das oft lebenslange Folgen.“ Insbesondere wenn es um Intimsphäre gehe. „Deshalb gelten in diesem Bereich auch noch mal andere Anforderungen, als wenn man, zum Beispiel, über Steuerhinterziehung berichtet.“ Für Jörg Kachelmann, der 2011 vom Vorwurf der Vergewaltigung freigesprochen wurde, trifft diese Einschätzung zu. Kachelmann leidet bis heute unter dem medial viel besprochenen Prozess gegen ihn. Er verwehrt sich aber gleichzeitig gegen die Vereinnahmung von Männern, denen ähnliche Delikte vorgeworfen werden. Auf Twitter verlinkte Kachelmann im vergangenen Jahr den „Spiegel“-Artikel zu Mockridge – mit den Worten: „Ich verwahre mich dagegen, dass mein Schicksal dafür verwendet wird, Opfer sexualisierter Gewalt zu delegitimieren. Meine Solidarität ist immer bei diesen Opfern und was mir passiert ist, eignet sich nicht zu Verallgemeinerungen irgendwelcher Art.“ 

Weitere Auskünfte will Kachelmann nicht geben. Mehr als ein Jahrzehnt nach dem Freispruch äußert er sich lieber zu anderen Themen – etwa zur Feinstaubbelastung durch Holzöfen. 

Was privat ist, wird immer wieder neu diskutiert

Auch die freie Reporterin Pascale Müller sieht eine große Verantwortung bei den Recherche-Teams. „Es vergehen meistens Wochen und Monate, in denen man abwägt, ob es wirklich richtig ist, diese Vorwürfe zu publizieren. Niemand sollte das leichtfertig tun.“ Doch Müller sieht sich auch ihren Quellen gegenüber verantwortlich. „Ich erlebe oft, dass sie massiv unter Druck gesetzt werden. Und es kann sein, dass versucht wird, sie juristisch zu belangen oder ihnen anderweitig Schaden zuzufügen.“ Diese möglichen Konsequenzen müsse sie schon während der Recherche transparent kommunizieren. Nachdenklich fügt sie hinzu: „Das ist ein sehr großes und ungeklärtes Feld – und ich habe hier sicher auch schon Fehler gemacht. Umso wichtiger finde ich es, dass wir uns fortbilden und professionalisieren.“

Doch auch die Frage, wo die Grenze zur Intimsphäre verläuft, sollte Teil dieser Weiterbildung sein. Und hier gibt es in der Branche unterschiedliche Auffassungen. Holger Stark, der das Ressort Investigative Recherche bei der „Zeit“ leitet, sagte etwa, „nicht jedes intime Detail aus einer toxischen Beziehung“ sei berichtenswert – und Mockridge als Comedian, der „zunächst mal nur moderiert“, sei womöglich nicht „exponiert“ genug, um eine detaillierte Auseinandersetzung im „Spiegel“ zu rechtfertigen. Dessen Redakteurin Ann-Katrin Müller hält dagegen: Die Frage, was privat sei, müsse immer wieder neu diskutiert und verhandelt werden. Im Fall Mockridge gebe es genug, was das öffentliche Interesse rechtfertige. 

Für die freie Journalistin Pascale Müller ist noch etwas anderes wichtig: „Kurz nach der #MeToo-Welle hatten viele Medienhäuser das Gefühl, das Thema sei auserzählt. Heute haben einige erkannt, dass wir es mit einem Dauerthema zu tun haben, das wir Journalistinnen kontinuierlich begleiten müssen.“ 

Immer geht es um Abwägungen, die notfalls vor Gericht standhalten müssen. Doch auch die juristische Bewertung ist im Wandel. In Deutschland warten nun viele Redaktionen gespannt auf die Entscheidung des Bundesgerichtshofs, der mit seiner Einschätzung des Falls Mockridge definieren könnte, wo heute die Grenzen der Privatsphäre verlaufen.

Anm. d. Red.: Bisher hat es keine Entscheidung des BGH zur Berichterstattung des „Spiegel“ im Fall Mockridge gegeben.