Reportagen: Schluss mit dem journalistischen Selbstbetrug!

Der deutsche Reportagejournalismus hat ein gefährliches Problem: Er reduziert Menschen auf Schablonen, damit die Leser redaktionelle Thesen besser schlucken. Das muss aufhören, fordert Manuel Stark.

Die Reportage ist, anders als Nachricht oder Meldung, eine Form journalistischer Erzählung. Wie jede Erzählung, spürt sie zwischen dem Wer und Was nach dem Wie und Warum. Sie verwebt Information mit Emotion und vermittelt so Eindrücke, die sich nicht allein durch Zahlen fassen lassen. Wie viele Menschen beispielsweise in einem Alter jenseits der 70 Nebenjobs nachgehen, um sich die Rente aufzubessern, kann ich durch eine Statistik erfahren. Will ich hingegen Verständnis entwickeln, wie es der 75-jährigen Helga Hofmann geht, wenn sie loszieht, um die Toiletten der Nachbarn zu reinigen, dann brauche ich Beobachtung, Begleitung, Nähe. Ich brauche die Kraft der Reportage.

Manuel Stark, 28, ist Mitgründer von Hermes Baby, der Autorengemeinschaft für Erzähljournalismus. Er arbeitet als Redakteur und freier Reporter für Medien wie das „SZ-Magazin“ und „Die Zeit“. Im Rahmen von Workshops, Seminaren und Vorträgen referiert er regelmäßig zu Erzähltechniken und der Macht von Geschichten. Er war Teil des „Top 30 bis 30“-Jahrgangs 2020. (Foto: Rafael Heygster)

Genau hier beginnt das Problem: Verlasse ich die Statistik und begleite Individuen, liegt es in der Natur der Sache, dass alle gesammelten Eindrücke genauso einzigartig sind wie die Menschen, durch die sie entstehen. Viele Journalisten sehen das als Schwäche. Schließlich soll ein Beitrag möglichst universelle, mindestens systemerklärende Geltung besitzen. Der Anspruch ist eben nicht, die putzende Rentnerin Helga Hofmann zu verstehen, sondern eine Antwort auf die Frage zu finden: „Wie geht es einem Menschen, der putzen muss, um sich die Rente aufzubessern?“ Das zeigt sich oft als „Portal“ zur Meta- oder Relevanzebene. In grausiger Form werden diese Einschübe eingeleitet von Formulierungen wie „Dies ist eine Geschichte über …“. Oder: „Die Geschichte von XY steht stellvertretend für …“ 

Die Folge sind Texte, die keine Menschen entfalten, sondern Schablonen skizzieren: Name, Alter und stichpunkthafte Beschreibungen des Äußeren. Die individuelle Geschichte wird auf die Rolle verkürzt, die ein Protagonist einnehmen soll. Das kann die verzweifelte Rentnerin sein, der gefallene Karrierist oder kämpferische Idealist. Kaum etwas erfahre ich über Dinge, die diesen Menschen abseits der ihm zugedachten Rolle ausmachen. Zwischen welchen Widersprüchen lebt er? Wo gibt es Brüche in Darstellung und Charakter? Wofür lebt, liebt, kämpft und wogegen verweigert, wehrt, schützt sich diese Person? Kurz: Was macht diesen Menschen zum Unikat? Antworten würden eine Persönlichkeit entstehen lassen, die jede Systemschablone sprengt. Journalisten aber wollen oft dadurch Universalität erreichen, dass ihr Beitrag ein System erklärt. Da passen solche Antworten nicht. Der Protagonist steht schließlich stellvertretend für … 

So aber reduziert es sich zum journalistischen Selbstzweck, noch echte Personen zu treffen. Sobald ein Mensch nur als möglichst thesentreffende Schablone interessiert, ist es ehrenwerter, gleich eine Figur zu erfinden. Die Regeln ließen sich dann immer noch einhalten, indem man die erfundenen Passagen mit Transparenzphrasen wie „so oder ähnlich“ abschließt. Ehrlicher wäre das allemal. 

Reportagen, die ihre Protagonisten als Stellvertreter verstehen, verweigern sich der Natur einer Erzählung. Statt Einzigartigkeit zu akzeptieren, leiten sie aus dem individuell Erlebten ein System ab. Subjektive Eindrücke werden als eine Art Beweiskette angeführt, um statistische Fakten durch emotionales Erleben zu belegen. Ein solches Vorgehen folgt dem Anspruch, dass die strukturelle Ebene eines Themas sich in der Geschichte des Einzelnen widerspiegle wie ein Siebdruck. Das ist journalistischer Selbstbetrug. Wer als Autor so arbeitet, pervertiert das Erzählen und schreibt schlimmstenfalls politische Manipulationen, bestenfalls verzichtbaren Kitsch. 

Das bedeutet keinesfalls, dass ich in einer Reportage über eine putzende Rentnerin nicht schreiben darf, wie viele Menschen statistisch unter Altersarmut leiden. Im Gegenteil ergänzen solche Hinweise häufig meinen Horizont als Leser. Nur gibt es einen grundlegenden Unterschied, ob diese Informationen im selben Text neben einer Erzählung über ein Individuum stehen, oder ob eine konkrete Person die Stellvertreterrolle für ein System einnehmen soll.Eine solche Stellvertreterrolle verlangt nach einer Schablone, die von statistischen Werten gezeichnet wird. Es gibt aber keine Schablonen-Menschen. Jeder Mensch ist einzigartig und erlebt dieselbe Situation grundverschieden.

Das Individuelle als Schwäche zu verurteilen ist falsch. Erst aus dem Einzigartigen zieht eine Erzählung ihre Kraft. Wie jede Geschichte birgt eine gute Reportage das Versprechen, uns selbst in anderen wiederzufinden. Durch das Erkennen von Gemeinsamkeiten erwerben wir Verständnis für fremde Wesenszüge und ferne Lebenswirklichkeiten. Je individualitätsversessener ein Autor arbeitet, um Protagonisten facettenreich, brüchig und widersprüchlich zu zeichnen, desto mehr werden Figuren zu Menschen. Reportagen, die sich als wahre Erzählungen verstehen, ermöglichen uns eine innere Entwicklung. Dafür bedienen sie sich der wertvollsten Fähigkeit des Menschen: Empathie. Welcher Anspruch könnte universeller sein?

Dieser Text erschien in „medium magazin“ 04/21 (zum Shop).

Weitere Themen dieser Ausgabe: Die Top 30 bis 30 – Welche Talente den Journalismus von morgen prägen werden // Samira El Ouassil über die Erzählung von der „Cancel Culture“ // Der berüchtigte Medienanwalt Christian Schertz im Porträt // Wie die Tech-Konzerne den Journalismus umgarnen // Toolbox: Personenrecherche in Social Media u.v.m.