Trauma im Journalismus: Bilder, die bleiben

Viele Journalistinnen und Journalisten sind bei Recherchen traumatischen Ereignissen ausgesetzt. Doch die Wenigsten sind dafür gewappnet. Warum das gefährlich ist – und was Fachleute raten. 

Text: Jana Hauschild

Er hat die Kamera immer wieder heruntergenommen. Er hätte Aufnahmen machen dürfen, aber er konnte nicht. Die Gefühle waren zu erdrückend, Momente immer wieder zu heftig. Der Journalist Carl Gierstorfer hat für einen Dokumentarfilm drei Monate lang auf einer Intensivstation der Charité in Berlin verbracht, als die zweite Corona-Welle im Winter 2020/2021 über Deutschland hereinbrach. „Ich wollte eigentlich Patienten herausbegleiten“, sagt er, „doch in den ersten Wochen sind fast alle verstorben.“ Er ist dabei, als bei einst gesunden Frauen und Männern die Monitore nur noch stille Linien anzeigen. Als die Ärztin die Verwandten anruft. Als der Bestatter den dunklen Sack auf einer Bahre aus dem Stationszimmer schiebt. 

„Was ich gesehen habe, hätte mich überrollen können“, sagt Dokumentarfilmer Carl Gierstorfer. (Foto: Jakob Fliedner)

Manchmal ist er 15 oder 16 Stunden in den Fluren der Station, zwischen den Monitoren bei den Patienten oder im Rettungswagen auf dem Weg zu neuen Erkrankten. Gierstorfer will alles dokumentieren. Weil es sein Job ist, seine Aufgabe als Journalist. In diesen Wochen schläft er wenig, raucht viel. „Was ich gesehen und erlebt habe, hätte mich überrollen können“, sagt er. 

Dass Journalistinnen und Journalisten, die aus Kriegsgebieten oder Krisenregionen berichten, Dinge mitanschauen müssen, die beklemmend, gefährlich, gar traumatisch sein können, ist ins Bewusstsein der Branche vorgedrungen. Schon länger gibt es spezielle Sicherheitstrainings und Vorbereitungskurse für Auslandskorrespondentinnen. Doch erst seit wenigen Jahren wird auch klar: Psychisch belastende Recherchen können ebenso hier geschehen, vor der Haustür, manchmal sogar direkt am Newsdesk. Sie hinterlassen Spuren, manchmal bleiben sogar Narben. 

Die Flut im Ahrtal, der Amokschütze in Hanau, die eingestürzte Skihalle in Bad Reichenhall: Reporterinnen und Reporter sind dann mit die Ersten vor Ort und sehen, was sonst nur Rettungskräfte, Feuerwehrleute und Polizei anschauen müssen. Sie sprechen mit Zeugen oder Überlebenden, hören Details, die ins Mark gehen. Und doch haben die meisten Journalisten anders als die Einsatzkräfte keine Schulung darin erhalten, wie sie mit den Eindrücken umgehen sollen, die sie mit nach Hause nehmen werden. 

„Es ist verrückt. Man würde keinen Reporter zu einem lokalen Fußballspiel entsenden, wenn der nicht weiß, was ein Tor oder Strafstoß ist. Aber wir schicken Reporter raus, um über Mord und Chaos zu berichten, die noch nie etwas von einer posttraumatischen Belastungsstörung gehört haben“, sagt der Journalist Bruce Shapiro aus den USA. Er ist der Direktor des Dart Center for Journalism and Trauma, eines Projekts der Columbia University Graduate School of Journalism. Es ist seit den 90er-Jahren eine der ersten Anlaufstellen für Journalistinnen und Journalisten, die traumatische Ereignisse erlebt haben. Mittlerweile besitzt das Zentrum auch in anderen Ländern Niederlassungen. Das Ziel: Aufklären. Zum Beispiel darüber, wie sich eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) äußert, wie sie entsteht, was als Schutz dient und was hilft, wenn jemand schon erkrankt ist. 

Menschen mit dieser psychischen Erkrankung verfolgt das Erlebte auch Monate später noch massiv. Sie durchleben einen dramatischen Moment wieder und wieder, all die Gefühle aus der Situation kommen dabei hoch, unkontrollierbar. Auslöser sind oft ungefährliche Details, ein Geräusch, ein Geruch, eine Person. Schiere Panik erfüllt den Körper, selbst wenn es gar keine Gefahrensituation mehr gibt und man daheim auf der Couch sitzt. Die Erinnerung verfolgt sie, ihre Stimmung sinkt ab, ein normales Leben zu führen, fällt ihnen immer schwerer.


Dieser Beitrag stammt aus Ausgabe 06/22. Die aktuelle Ausgabe 02/23 mit einer Recherche zu Funke-Chefin Julia Becker, einem Praxis-Special zu KI-Tools für Medienprofis, dem Dossier „Macht“ sowie ganz viel Nutzwert für die journalistische Berufspraxis ist ab sofort digital oder als Printausgabe hier erhältlich oder im ikiosk

 

 

 


Eine Erhebung unter Journalistinnen und Journalisten aus dem Vereinigten Königreich zeigt beispielsweise auf, wie belastend schon die Berichterstattung zur Coronapandemie für viele war. Insgesamt 120 Kolleginnen und Kollegen aus unterschiedlichen Ressorts wurden zu ihren Recherchen der vergangenen Jahre sowie ihrem Befinden befragt. Jene, die sich viel mit dem Virus und seinen Folgen beschäftigt hatten, wiesen dabei deutlich öfter Anzeichen für eine PTBS auf. Insgesamt 19 Journalisten berichteten in einem Fragebogen von so vielen Symptomen, dass die Studienautoren von einer Erkrankung ausgehen. 15 von ihnen hatten sich intensiv mit der Pandemielage beschäftigt, nur vier nicht.

Natürlich: Nicht jede schwierige Recherche muss traumatisch sein. Auch weiß man, dass nicht jede traumatische Situation zu einer psychischen Erkrankung führt. Erhebungen in der Allgemeinbevölkerung zeigen: Sieben von zehn Menschen sind mindestens einmal in ihrem Leben mit einer traumatischen Situation konfrontiert. Insgesamt erkranken aber nur 4 Prozent aller Männer und Frauen an einer PTBS. Die meisten Menschen erholen sich von dem Schock, bleiben seelisch gesund, wenn auch nicht gänzlich unbelastet. Das gilt auch für Journalistinnen und Journalisten. Der Unterschied: Sie begegnen in ihren Jobs sehr viel öfter Momenten, die drastisch oder auch beängstigend sein können. Und die Forschung zeigt: Je öfter jemand traumatischen Szenarien ausgesetzt ist, desto höher ist auch das Risiko, eines Tages seelische Schäden zu erleiden. 

Die Psychologin River Smith von der US-Universität Tulsa hat gemeinsam mit dem Dart Center for Journalism and Trauma 167 Journalistinnen und Journalisten für ihre Dissertation befragt. Rund 80 Prozent von ihnen benannten traumatische Ereignisse im Job, also nicht viel mehr Personen als in der Allgemeinbevölkerung. Aber: Die große Mehrheit berichtete gleich von mehreren solchen Momenten, nämlich im Schnitt von fünf. Autounfälle, Brände, Erdbeben oder Mordfälle: Berichterstattung, die hängen blieb. Bei jedem zehnten Studienteilnehmer bestand der Verdacht auf eine PTBS. 

„Krisen sind journalistischer Alltag, sie lassen sich nicht vermeiden“, sagt Barbara Hans, die ehemalige Chefredakteurin von Spiegel Online und heute Ansprechpartnerin für das Dart Center in Europa ist. Sie habe aber sehr wohl erlebt, was schwierige Recherchen mit Kolleginnen und Kollegen machen können. „Manche konnten ein bestimmtes Thema nicht mehr bearbeiten, andere vorübergehend gar nicht mehr schreiben“, berichtet sie. Einige hätten Flashbacks gehabt, also intensive und unkontrollierbare Erinnerungen an die traumatischen Momente. Hans selbst kann sich noch sehr lebendig an die Bilder nach dem Anschlag auf den Konzertsaal Bataclan 2015 in Paris erinnern. Sie war nicht vor Ort, sondern musste die ungefilterten Filmaufnahmen von diesem Abend am Newsdesk sichten. Die Bilder haben sich eingebrannt in ihr Gedächtnis.

„Das Bewusstsein in der Branche ändert sich“, ist Barbara Hans vom Dart Center Europe überzeugt. (Foto: Gulliver Theis)

Hans berät heute Redaktionen zu psychologischen Präventionsmaßnahmen und Problemen, coacht Kolleginnen. Seit der Pandemie und dem Krieg in der Ukra­ine seien die Anfragen deutlich mehr geworden, von einzelnen Kolleginnen oder ganzen Redaktionsteams. „Das Bewusstsein ändert sich“, sagt sie. Wie wir mit Stress und Trauma umgehen, sei nicht nur wichtig, um uns selbst als Autorinnen zu schützen, sondern berühre auch unsere journalistische Verantwortung: „Wie können wir über belastende Dinge berichten, ohne zynisch zu werden, abzustumpfen und damit die Qualität des Journalismus zu gefährden?“ Sie empfiehlt jedem, zunächst auch bei sich selbst zu schauen: „Was kann ich leisten – und was nicht?“, sagt Hans. In ihren Einzelberatungen ginge es oft darum, dass Kolleginnen und Kollegen zu viel wollten. 

Ein großer Lösungsstrang führt aber auch direkt in die Verlagshäuser und Redaktionen. „Führungskräfte und Management müssen eine Kultur schaffen, in der Mitarbeitende anklopfen können, um zu sagen, dass sie etwas belastet“, sagt Barbara Hans. Noch Anfang der 2000er Jahre herrschte in den Redaktionen eine Art Macho-Kultur. Gefühlen in einem Report Platz einzuräumen, mache die Berichterstattung soft und verweibliche sie, fasst die Journalismusprofessorin Natalee Seely 2019 in einem Forschungsbericht die damalige Haltung in der Branche zusammen. Durch Recherchen psychische Probleme zu bekommen, konnte als Schwäche oder Inkompetenz für den Job abgestempelt werden. Eine PTBS zu entwickeln, habe quasi gegen das Ethos im Newsroom verstoßen.

Tatsächlich gilt die Haltung als objektiver Beobachter und damit emotional distanzierter Mensch in der Psychologie als ungesunder Bewältigungsstil für traumatische Situationen. Das sogenannte Avoidant-Coping, also das Vermeiden von Gefühlsregungen und einer Aufarbeitung des Erlebten, sei nur on the job hilfreich, heißt es in der Dissertation von River Smith. Das Erlebte im Nachgang wegzuschieben, begünstige einen ungesunden Umgang mit den starken Gefühlen. Die würden dann eher mit Alkohol und Drogen betäubt.

Sich mit den eigenen Problemen zu beschäftigen und nach Lösungen dafür zu suchen, ist der nachweislich gesündere Stil, um belastende Erlebnisse zu verarbeiten. Damit Journalistinnen und Journalisten das tun können, muss es aber nicht nur das nötige Klima in den Redaktionen geben, sondern auch niedrigschwellige Hilfsangebote. Manche Verlags- und Funkhäuser haben an dieser Stelle in den vergangenen Jahren sichtbar nachjustiert. 

Fragt man bei den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten oder führenden Printmedien wie „Zeit“ und „Spiegel“ an, präsentieren diese umfangreiche Angebote für ihre Mitarbeitenden: Workshops für das seelische Wohl und mehr psychische Widerstandskraft, Seminare zu Selbstfürsorge, aber auch Beratungshotlines, professionelle oder geschulte Ansprechpartner, Supervision und psychologische Sprechstunden. Ein Kooperationspartner von zahlreichen Medienhäusern ist das Zentrum für Trauma- und Konfliktmanagement in Köln (ZTK), das bei Großschadenslagen hinzugezogen und immer wieder auch von Redaktionen um Unterstützung gebeten wird.

„Wir können das Ereignis nicht verhindern und damit nicht die Traumatisierung, aber wir können versuchen, eine Folgeerkrankung zu verhindern“, sagt der Psychologe und Geschäftsführer des Zentrums, Thomas Weber. Noch vor zehn bis 15 Jahren hätten er und sein Team hauptsächlich Auslandskorrespondenten betreut, heute würden sie von Medienhäusern viel breiter angefragt. Ein Teil ihrer Hilfe ist Psychoedukation, also Aufklärung über die psychologischen Prozesse, die ein traumatisches Ereignis anstoßen kann. „Wir erklären dann zum Beispiel, dass alles, was die Betroffenen nach solch einer Erfahrung empfinden, eine normale Reaktion auf eine außergewöhnliche, nicht normale Situation ist“, sagt Weber. Hat die Traumatisierung bereits eine behandlungsbedürftige psychische Erkrankung zur Folge, vermittelt das ZTK zu niedergelassenen Psychotherapeutinnen und -therapeuten. 

„Aber auch im Vorfeld muss mehr getan werden“, mahnt Tobias Schweigmann, wissenschaftlicher Mitarbeiter am In­stitut für Journalistik der TU Dortmund. Er sieht es kritisch, dass viele Angebote erst greifen, wenn schon etwas passiert ist. Schweigmann hat an der Uni 2011 ein Seminar über „Trauma und Journalismus“ ins Leben gerufen, nachdem Studierende bei der Massenpanik während der Duisburger Loveparade vor Ort gewesen waren. Seither lernen die Teilnehmenden bei ihm, welchen Einfluss Recherchen auf ihr seelisches Wohlbefinden haben können, und nehmen an einem Training der Bundeswehr teil. „Psychische Gesundheit sollte fester Bestandteil der Ausbildung im Journalismus sein“, fordert Schweigmann. 

Immerhin: Nicht nur an der TU Dortmund, auch in manchen Volontariaten findet die Thematik mittlerweile Raum. „Die Angebote der Redaktionen und Verlage sind jedoch sehr heterogen. Es gibt gute Präventions- und Hilfsangebote, aber vieles ist nur punktuell und nicht systematisch. Vor allem für die freiberuflichen Kolleginnen und Kollegen gibt es sehr wenig Hilfe“, sagt er. Auch sein Uni-Seminar ist keine Pflichtveranstaltung.

Redaktionen sollten prüfen, wen sie ins Feld schicken, appeliert der Journalist und Kriegsreporter Enno Heidtmann. Häufig sei es noch Manier, die junge Volontärin oder den Praktikanten zu entsenden. (Symbolfoto: Adobe Stock)

Der Journalist und Kriegsreporter Enno Heidtmann appelliert zudem an die Fürsorgepflicht der Redaktionen. Redakteure sollten prüfen, wen sie ins Feld schicken. Häufig sei es noch Manier, die junge Volontärin oder den Praktikanten zu entsenden. Auf einer Fachtagung zu „Trauma und Journalismus“, die Heidtmann 2018 an der Universität Hamburg zusammen mit einer NGO organisiert hatte, berichtete eine junge Frau von einem Moment in ihrem Volontariat: In der Stadt hätte sich ein Rucksackbomber in die Luft gesprengt. „Fahr doch da mal hin und mach geile Bilder“, habe der Redakteur zu ihr gesagt. Heidtmann verärgert das: „Das ist unverantwortlich!“ Er selbst hat 14 Jahre in der Bundeswehr gedient und ist später als Journalist wieder in viele der Einsatzgebiete gereist. Einige Zeit war er auch in Norddeutschland in einer Blaulichtredaktion und musste dort mehrfach Nachwuchsreporter in Schutz nehmen. „Wir wurden mal zu einem Autounfall gerufen. Als wir ankamen, hörte ich in einem überschlagenen Wagen eine Frau und ihr Baby schreien. Da habe ich die Praktikantin sofort in die Redaktion zurückgeschickt“, sagt Heidtmann. 

Doch auch erfahrene Journalisten kann es umhauen. Dessen ist sich auch Carl Gierstorfer bewusst. Er hat schon Dokumentationen über HIV in Afrika und den Ausbruch von Ebola in Liberia gedreht. Seit Kurzem ist sein neuer Film „Ukraine – Kriegstagebuch einer ­Kinderärztin“ zu sehen. Gierstorfer sagt: „Ich weiß nicht, wann der Moment kommt, dass ich es nicht mehr aushalte.“ 

Die Dreharbeiten in der Charité haben ihn nachhaltig geprägt, da ist er sich sicher. Wochenlang hat er jede Nacht von der Intensivstation geträumt. Die Eindrücke vom Dreh hätten ihn aber nie in einer negativen Weise überrollt. „Auf der Station war immer Raum für Gespräche und auch dafür zu weinen.“ Viele Stunden habe er mit der Psychologin auf Station gesprochen und „vielleicht schon dabei meine Therapie mit ihr gemacht“. Er pflegt engen Kontakt zu Überlebenden und Angehörigen. „Über Wochen habe ich täglich mehrere Stunden mit ihnen telefoniert, wir haben darüber gesprochen, was wir erlebt haben. Das hat uns allen geholfen, damit umzugehen.“ Während der Dreharbeiten sei er völlig abgetaucht.

Gierstorfer erinnert sich genau, wann er wieder in sein Leben zurückkehrte: „Ich bin im Frühjahr nach dem Dreh mit meinem Rennrad in die Uckermark gefahren und dann gab es diesen Moment: Als würde ich nach einer sehr langen Zeit unter Wasser wieder auftauchen. Mein Kopf kommt an die Oberfläche, die Sonne scheint, ich japse nach Luft.


Dieser Beitrag stammt aus Ausgabe 01/23. Die aktuelle Ausgabe 02/23 mit einer Recherche zu Funke-Chefin Julia Becker, einem Praxis-Special zu KI-Tools für Medienprofis, dem Dossier „Macht“ sowie ganz viel Nutzwert für die journalistische Berufspraxis ist ab sofort digital oder als Printausgabe hier erhältlich oder im ikiosk