Was im Journalismus jetzt wirklich wichtig ist

Die Branche scheint derzeit von eine Krise in die nächste zu stolpern. Wir haben daher alle Erstplatzierten der „Journalistinnen & Journalisten des Jahres 2021“ gefragt, was für sie wirklich unseren Beruf ausmacht – und was sie selbst dafür tun. 

Umfrage: Annette Milz

 

Natalie Amiri

Korrespondentin/Moderatorin ARD/Bayerischer Rundfunk

Journalistin des Jahres 2021 in der Kategorie Politik 

Natalie Amiri (Foto: Johannes Moths)

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Vor Ort sein, ein eigenes Urteil bilden, kein Abschreiben von Agenturen und ohne rhetorische Schnörkel die Tatsachen abbilden, sind meine Prämissen im Journalismus. Eine Berichterstattung befreit von Klischees und Befindlichkeiten, vielleicht auch gegen den Strom, oder manchmal unbedingt.
Eine Berichterstattung, die ohne Rücksicht auf Auflagen und Zuschauerzahlen/Quoten die dringendsten Themen unserer Zeit investigativ begleitet, um Aufklärung, Freiheit, Unabhängigkeit und Frieden für die Menschen zu ermöglichen.

Wo sehen Sie dies in der Branche gelungen umgesetzt? Für mich setzt vieles davon der ARD Weltspiegel um, wir Korrespondenten sind vor Ort, sind nicht angewiesen auf Agenturen, können uns durch längere Aufenthalte in unterschiedlichen Ländern ein eigenes Bild über Gesellschaft und Politik machen und lassen die Menschen zu Wort kommen, die den ZuschauerInnen einen authentischen Einblick gibt

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Ich bin vor Ort. Versuche durch Empathie und Interesse das Vertrauen von ProtagonistInnen zu gewinnen, um so nah und so authentisch wie möglich aus den Ländern, in denen ich mich befinde zu berichten. Mir ist es auch wichtig Menschen und Regionen eine Stimme zu geben, die nicht in Freiheit leben, unterdrückt werden und nicht im Fokus der Weltöffentlichkeit stehen. Selbst wenn ich nichts bewegen kann, ich kann den ZuschauerInnen hier zumindest vermitteln, dass sie schätzen sollen was sie haben: Frieden und Freiheit.

 

Olaya Argüeso Pérez

Chefredakteurin CORRECTIV (mit Justus von Daniels)

Journalistin des Jahres 2021 in der Kategorie Chefredaktion national 

Foto Correctiv

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Als ich mit dem Journalismus begann, war ich davon besessen, dass meine Arbeit irgendeine positive Wirkung haben sollte. Im Vergleich zu anderen Berufen wie Medizin, Ingenieurwesen oder öffentlichem Dienst, in denen die Ergebnisse der eigenen Arbeit greifbar sind, ist dies im Journalismus nicht immer so leicht zu erkennen. Mehr als zwanzig Jahre später ist es jedoch immer noch mein Hauptziel, durch meine Arbeit einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten.

Wo sehen Sie dies in der Branche gelungen umgesetzt? Die Arbeit von kooperativen Journalistennetzwerken wie dem ICIJ auf internationaler Ebene oder dem Bureau Local im Vereinigten Königreich macht einen Unterschied, indem sie in Ländern auf der ganzen Welt oder in britischen Städten durch Recherchen etwas bewirken, die zeigen, dass die Probleme der Bürger und Bürgerinnen gemeinsam sind und daher auch gemeinsame Lösungen haben können.

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Recherchen wie „Wem gehört die Stadt?“, die es den Bürgern und Bürgerinnen ermöglicht hat, dass sie aktive Protagonisten und nicht nur passive Zuschauer in einem solchen wichtigen Thema sind, und wo CORRECTIV mit lokalen Redaktionen gearbeitet hat. Recherchen wie die CumEx-Files, wo wir mit Medien aller Welt zusammen hunderte von Unterlagen enthüllt haben, und dieses Problem zu einem relevanten Thema auf europäischer Ebene gemacht haben, bis hin zu dem Punkt, dass die Europäische Kommission Rechtsvorschriften vorbereitet, um diesen raffinierten Betrug einzudämmen.

 

Christina Berndt

Redakteurin für Medizin, Wissenschaft und Gesellschaft, Süddeutsche Zeitung

Journalistin des Jahres 2021 in der Kategorie Wissenschaft 

Foto: Karin Brunner

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Neben Anständigkeit, Aufrichtigkeit und echtem Interesse an der Wahrheit sollte es uns ein Anliegen sein, die ganze Gesellschaft in unserer Berichterstattung anzuhören und ihre Sicht abzubilden.

Wo sehen Sie dies in der Branche als gelungen umgesetzt? In den wichtigsten deutschen Talkshows hat es hier zuletzt echten Fortschritt gegeben, besonders was die Präsenz von Frauen betrifft. Aber auch Menschen mit unterschiedlichem Alter und Gender sowie religiöser und kultureller Zugehörigkeit werden immer sichtbarer. Das halte ich für eines der wichtigsten Signale auf dem Weg zu mehr Akzeptanz, Gerechtigkeit und Teilhabe.

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Ich bemühe mich auch in meinen Artikeln, Vielfalt sichtbarer zu machen, nicht immer den Lehrstuhlinhaber zu fragen, sondern etwa auch die kenntnisreiche Arbeitsgruppenleiterin oder eine*n Jungforscher*in mit besonderem Blick. Das gelingt mir leider (noch) nicht immer. Aber jedes Expert*innenstatement, das nicht der dominanten gesellschaftlichen Gruppe entstammt, zeigt, wie viel Wissen, Gestaltungskraft, Klugheit und Ideenreichtum auch in solchen Köpfen steckt, denen viel zu viele Mitglieder der Gesellschaft das immer noch nicht zutrauen.

 

Annette Binninger

stv. Chefredakteurin und Leiterin Politik/Wirtschaft Sächsische Zeitung,

Journalistin des Jahres 2021 in der Kategorie Chefredaktion regional 

Foto: David Pinzer

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Leidenschaft für die Arbeit, Sorgfalt, Fairness, Ausdauer, Kreativität, gelegentlich Härte, aber stets Standhaftigkeit. All das hätte ich vor wenigen Jahren noch geantwortet. Das hätte gereicht. Es gilt auch weiterhin. Doch mittlerweile bin ich „bescheidener“ geworden. Was mir wirklich wichtig ist im Journalismus? Dass guter Journalismus, vor allem regionaler und lokaler, eine Zukunft hat. Das ist nicht mehr garantiert. Es muss jeden Tag neu erkämpft werden. Vor allem bei der Auswahl der entscheidenden Themen, durch Anders- und Bessermachen als alle anderen. Dazu gehören für mich vor allem der Blick für Geschichten, für die richtige Auswahl von starken gesellschaftlich relevanten Themen. Dann fehlt nur noch tiefe, investigative Recherche. Und sie beginnt damit, immer wieder selbstkritisch die Frage zu stellen:  Was wissen wir? Nicht etwa: Was nehmen wir an, was könnte sein, waren wir die schnellsten oder gar wofür oder wogegen sind wir? Man darf sich nicht “ mitreissen“ lassen. Erst die sorgfältige, gründliche Recherche macht Angebote unterscheidbar, schafft Neugier und Vertrauen bei Leserinnen und Lesern – und wird damit entscheidend fürs Überleben.

Wo sehen Sie dies in der Branche als gelungen umgesetzt? In jeder tiefer gehenden Geschichte mit hoher Relevanz – von der kleinen Nachricht bis zur großen Analyse oder Reportage. Bei jedem neuen Format, das auf eine andere Zielgruppe gerichtet ist. Beispielsweise durch einen Newsletter, einen Blog oder einen Podcast. Es gilt jetzt, gezielt neue Zielgruppen zu definieren und sie gezielt anzusprechen, zu halten und auszubauen. So gelingt es, neue Leserinnen und Leser zu gewinnen, gleichzeitig unsere Arbeit transparent zu machen. Damit gewinnen wir auch notwendiges Vertrauen zurück. Wir haben in Sachsen jahrelang gesehen und erlebt, wie schwer, hart, aber auch bereichernd es ist, gegen alle Widerstände inhaltlich „Kurs zu halten“ – besonders während der Flüchtlingskrise 2015 und in den beiden Corona-Jahren.

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Ich übe mich sooft wie möglich darin, radikal anders zu denken – anders, als viele von uns mal vor etlichen Jahren in diesen Beruf eingestiegen sind. Entscheidend wird nicht mehr sein, was gedruckt ist, sondern was, wie und wann veröffentlicht wird. Jeder Tag muss eine Übung sein im Loslassen von alten, liebgewonnenen Gewohnheiten. Von Dingen, die „Wir-doch-immer-so-gemacht-haben“, von alten Wahrheiten über vergängliche Geschäftsmodelle. Jetzt ist die Zeit, klug zu handeln und klug in die Zukunft zu investieren. Eine, die anders sein wird und es auch sein muss. Dazu müssen wir junge Menschen begeistern, sie begleiten, sie ermutigen und stärken – denn nur wenn sie für sich darin eine Zukunft sehen, wird regionaler Qualitätsjournalismus auch eine haben.

 

Daniel Drepper

seit April 2022 stellvertretender Leiter der Recherchekooperation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung, zuvor Chefredakteur von Ippen Investigativ

Journalist des Jahres 2021 (als Mitglied des vierköpfigen Teams Ippen Investigativ)

Daniel Drepper, Foto: Stefan Beetz

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Wirklich wichtig ist mir die Recherche – und dass wir an möglichst vielen Orten die Bedingungen (Zeit! Geld! Unterstützung!) für aufwändige Recherchen schaffen, für viele verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven.

Wo sehen Sie dies in der Branche als gelungen umgesetzt? Ich glaube, dass immer mehr Medien den Wert von hochwertigen Recherchen und gut erzählten Geschichten erkennen – und dass es nur mit Abschreiben und Klickbetrug langfristig nicht funktioniert. Konkret freue ich mich, dass neben etablierten Verlagen und dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk immer mehr gemeinnützige Projekte gestartet werden – nicht nur das mittlerweile etablierte Correctiv, sondern auch kleinere Projekte mit besonderem Themenfokus oder im Lokalen, wie Investigate Europe, MedWatch, Kontext Wochenzeitung oder Netzpolitik. Langfristig wird das eine wichtige Ergänzung unseres Mediensystems werden, davon bin ich überzeugt.

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Ich versuche mich als Vorsitzender des Netzwerk Recherche dafür einzusetzen sowie in meiner Funktion als stellvertretender Leiter der Recherchekooperation von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung. Beim Netzwerk Recherche haben wir gemeinsam mit den Neuen deutschen Medienmacher:innen ein Diversity Fellowship gestartet, in diesem Jahr unterstützt von der ZEIT-Stiftung. Hier finanzieren wir pro Jahr vier Menschen mit Migrationshintergrund ein mehrmonatiges, bezahltes Praktikum in etablierten Investigativ-Ressorts und bieten zudem kostenlose Weiterbildungen an. Wir hoffen, damit mehr Menschen die Arbeit an aufwändigen Recherchen möglich zu machen. Zudem setzen wir uns beim Netzwerk Recherche dafür ein, den gemeinnützigen Journalismus in Deutschland zu stärken, mit Stipendien, mit Beratung, mit Projekten. Dort bauen wir konkret an der Zukunft der Recherche. Das finde ich sehr inspirierend.

 

Samira El Ouassil

Freie Autorin, Kolumnistin des Spiegels und Übermedien

Journalistin des Jahres 2021 in der Kategorie Kultur 

Foto: Quirin Leppert

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Guter Journalismus muss abbilden, vermitteln, einordnen. Herausragender Journalismus erlaubt durch seine Aufklärungsarbeit einer Gesellschaft sich zu emanzipieren und humanistischer zu werden. Denn die angebotenen Fakten machen bestenfalls mündig, das Schaffen von Verständnis für gesellschaftspolitische Belange empathisch.

Wo sehen Sie dies in der Branche als gelungen umgesetzt? Es gibt so viele großartige Beispiele, exemplarisch sei hier die Arbeit der Krautreporter genannt, die Berichterstattung von Isabel Schayani, das ausgezeichnete „Ippen Investigativ“-Team bestehend aus Juliane Löffler, Daniel Drepper, Katrin Langhans und Marcus Engert.

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Ich hoffe natürlich – mit der unendlichen Hybris einer Autorin, welche die Medienwirkung von Kolumnen mit Begeisterung überschätzt – dass meine Texte ein kleinwenig dazu beitragen.

 

Joachim Frank

Chefkorrespondent und Mitglied der Chefredaktion beim Kölner Stadt-Anzeiger,

Journalist des Jahres 2021 in der Kategorie Reportage regional 

Foto: Christoph Hardt

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? „Unabhängig – Seit 1802 – Überparteilich“, so steht es im Kopf des „Kölner Stadt-Anzeiger“. In Antworten auf ungezählte Leserbriefe habe ich versucht, zu erklären, dass Unabhängigkeit und Überparteilichkeit keine Synonyme für Ort- und Standpunktlosigkeit sind. Spätestens 2015 – im Zuge der Flüchtlingskrise – geriet in der öffentlichen und branchen-internen Diskussion der „Haltungsjournalismus“ unter Beschuss, bisweilen mit abschätzigem, ja denunziatorischem Unterton. Mir ist demgegenüber ein Wort des Archimedes im Gedächtnis, dem ich vor vielen Jahren im Studium (der Theologie, sinnigerweise) begegnet bin. „Dos moi pou sto…“ – „Gib mir einen festen Punkt, wo ich stehen kann, und ich bewege die Erde.“

Wo sehen Sie dies in der Branche als gelungen umgesetzt? Gelingen ist ein großes Wort! Meine Chefredakteure – fünf sind es mittlerweile – haben alle auf ihre Weise den Satz ausbuchstabiert, der die Haltung des „Kölner Stadt-Anzeiger“ formuliert und den ich (wie alle Kolleginnen und Kollegen in der Redaktion) in meinem Arbeitsvertrag unterschrieben habe: „Der ‚Kölner Stadt-Anzeiger‘ ist eine liberale Tageszeitung.“ Das macht es seit mehr als zwei Jahrzehnten so reizvoll, spannend und bereichernd, in dieser Redaktion arbeiten zu dürfen.

Sollte ich KollegInnen mit Haltung nennen, an deren Kombination von Professionalität und Passion, kühlem Kopf und Herzenswärme, Agilität und Standfestigkeit man sich/ich mich halten kann, dann sind das Heribert Prantl (SZ) und Isabel Schayani (WDR).

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Seit mehr als einem Jahrzehnt beschreibe, analysiere und kommentiere ich den Missbrauchsskandal – vor allem in der katholischen Kirche. Ohne JournalistInnen, die den Betroffenen zugehört, ihre Geschichten recherchiert und sie erzählt haben, wäre es nicht in diesem Maße zur Aufdeckung eines systemischen Versagens gekommen. Zur Aufklärung und Aufarbeitung bedarf es ganz offensichtlich auch weiterhin des öffentlichen Drucks. Hier wie in vielen anderen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens sind JournalistInnen gefragt, die „Partei nehmen“ für die, die sonst keine Stimme haben oder kein Gehör finden.

Und wenn ich mich gelegentlich vergewissern will, dass „überparteilicher“ Journalismus in diesem Sinne sehr wohl parteiisch sein darf (womöglich sogar sein muss), dann werfe ich den DVD-Player an oder tippe auf die Streaming-App und schaue mir „Spotlight“ an, den Oscar-Preisträger 2016.

 

Katrin Eigendorf

Auslandskorrespondentin des ZDF

Journalistin des Jahres 2021 in der Kategorie Reportage national 

Foto: ZDF/KlausWeddig

 Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Offen und unvoreingenommen mit einer großen Demut vor der Verantwortung, die JournalistInnen tragen, zu berichten. Haltung zu bewahren, wir sind niemandem außer der Wahrheit verpflichtet. Das Herz nicht außen vor zu lassen, vor allem in Reportagen ist es wichtig, sich nicht nur von seinem Verstand leiten zu lassen, sondern auch das Herz mit einzubeziehen. Bei Einsätzen in Kriegs- und Krisengebieten: Respekt vor der Leistung und den Risiken, den unsere lokalen KollegInnen tragen. 

Wo gelingt das in der Branche besonders gut? International: Bei Vice News, die bei ihren Reportagen immer sehr nah ans Geschehen heranrücken, auch in Krisengebieten und Menschen zu Sprache kommen lassen. Bei den gut recherchierten Artikeln des britischen Economist.

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Mir ist es wichtig, aus eigener Anschauung zu berichten, vor allem in Kriegs- und Krisengebieten. Die Risiken und auch schmerzhaften Erfahrungen, die manchmal damit verbunden sind, muss man aushalten, deswegen ist es wichtig, dass im Team eine offene und gute Zusammenarbeit funktioniert, dafür setze ich mich ein. Ich trete auch für die Unterstützung von KollegInnen ein, die unter schwierigen, oft lebensbedrohlichen Umständen ihre Arbeit machen, indem ich Reporter ohne Grenzen unterstütze und Mitglied im Beirat des ADAMI Medienpreises bin, der JournalistInnen in den Ländern der östlichen Partnerschaft, u.a. Ukraine und Belaruss unterstützt und fördert.

 

Marcus Engert

Ab 1. Juni 2022 Mitglied des Investigativ-Ressort des Norddeutschen Rundfunks, zuvor Redakteur von Ippen Investigativ (früher: BuzzFeed News Deutschland)

Journalist des Jahres 2021 (mit Daniel Drepper, Juliane Löffler und Katrin Langhans)

Marcus Engert (2.v.l./Foto: Volker Conradus)

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Der Abbau von Privilegien. Die Sichtbarmachung von Fleiß, Mut und unsichtbarer Arbeit. Das Eingeständnis, niemals, wirklich niemals fertig ausgebildet zu sein. Und vielleicht sollten wir auch ein bisschen öfter über Selbstkritik und Selbstzweifel sprechen – womöglich würde das helfen, der Sucht unserer Branche nach Idolen und Helden-Erzählungen immer auch ein bisschen Realität gegenüberzustellen.

Wo sehen Sie dies in der Branche als gelungen umgesetzt? Bei „Frag den Staat“. Allerdings habe ich auch ganz generell das Gefühl, dass viele der o.g. in den Themen in den letzten Jahren mehr Aufmerksamkeit bekommen, und das ist sehr gut so.

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Nicht genug, fürchte ich. Ich versuche natürlich, meine eigene Rolle, meine eigenen Privilegien und mein eigenes Auftreten stetig zu hinterfragen und mich auch immer wieder daran zu erinnern, dass jeder Akku irgendwann mal leer ist, auch mein eigener. Und ich versuche, mich in der Aus- und Fortbildung zu engagieren und Anfragen für Auftritte an Ausbildungseinrichtungen oder Interviews für Abschlussarbeiten möglichst auch nachzukommen. Kommt alles im Alltag leider ab und zu kurz, aber ich arbeite dran :-)

 

Holger Gertz

Redakteur Süddeutsche Zeitung

Journalist des Jahres 2021 in der Kategorie Sport 

Foto: SZ

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Als Reporter ist es mir wichtig, dass die Journalisten und Journalistinnen wieder mehr rausgehen, vor Ort sind. Mir wird zu viel herumgemeint gerade, die Welt wird in Talkshow-Studios erklärt, manchmal von Experten, dann ist es bereichernd. Allerdings zu oft auch von journalistischen Möchtegern-Experten. Dann ist es selbstgefälliges Geschwätz. Wegen Corona sind in vielen Redaktionen die Reisebudgets zusammengekürzt worden, das muss sich wieder ändern. Mich ermüden auch diese bemühten Reisen ins Innere und in die eigene Befindlichkeit, Ich-Geschichten sind überschätzt, sie ersetzen keine Recherchen. Wir müssen, in allen Berichtsgebieten, wieder mehr raus. „Show, don‘t tell“ sagen mit allem Recht die Amerikaner.

Wo sehen Sie dies in der Branche als gelungen umgesetzt? In der Berichterstattung vom Krieg in der Ukraine durch Katrin Eigendorf (ZDF) und Christoph Reuter (Spiegel). Deren Berichte informieren mich, erschüttern mich – gerade, weil diese beiden erfahrenen Kriegsreporter nicht sich selbst in den Mittelpunkt stellen, sondern das Thema.

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Ich will wieder mehr rausgehen.

 

Carl Gierstorfer

Regisseur/frei 

Journalist des Jahres 2021 in der KategorieTeam (mit Mareike Müller)

Foto: Jakob Fliedner

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Mit ist wichtig, dass Meinung nicht Eingang in faktische Berichterstattung findet

Wo sehen Sie dies in der Branche als gelungen umgesetzt? Formal immer noch am besten in der angelsächsischen Presse umgesetzt: AP Berichterstattung aus der Ukraine. Auch New York Times.

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Als Dokumentarfilmer versuche ich immer so viel als möglich zu beobachten und das Geschehen aus sich heraus (ohne Sprecher) zu erzählen. Nicht immer möglich, aber ein Möglichkeit sich selbst zurück zu nehmen.

 

 

 

 

Hanna Herbst

Redaktionsleiterin ZDF Magazin Royale (UE GmbH)

Journalistin des Jahres 2021 in der Kategorie Unterhaltung 

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Keine Angst davor haben, sich mit den Großen anzulegen und Geschichten sehen in Dingen, in denen sonst keiner eine sieht. 

Wo sehen Sie dies in der Branche als gelungen umgesetzt? Zum Glück an sehr vielen Stellen! Von den Enthüllungen über Julian Reichelt durch das Team um Juliane Löffler über die peniblen Faktenchecks von u.a. Correctiv oder Bellingcat bis hin zur gescheiterten Suche nach dem Ursprung des Dönerlogos in der FAZ. 

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Wir versuchen als Redaktion genau das: Fundiert recherchiert denen auf die Finger zu schauen, denen zu viel nachgesehen wird, und andererseits da hinzublicken, wo vielleicht noch nicht allzu viele gewühlt haben. 

 

Katrin Langhans

Seit Januar 2022 Redakteurin des Spiegel, zuvor Redakteurin Ippen Investigativ (früher: BuzzFeed News Deutschland)

Journalistin des Jahres 2021 (mit Daniel Drepper, Juliane Löffler und Marcus Engert)

Katrin Langhans (2. v.l.) Juliane Löffler (3. v.l.) / Foto: Volker Conradus)

 Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Ich möchte Menschen eine Stimme zu geben, die oft keine haben, mit einem kritischen Blick auf die Welt schauen, mit meinen Geschichten Menschen zum Nachdenken anregen, sie berühren, Debatten anstoßen. 

Wo sehen Sie dies in der Branche als gelungen umgesetzt? Es gibt viele gute Recherchen und Geschichten, die mich zum Nachdenken bewegen. Der letzte Text, der mich berührt hat, war der Text „Weiterleben“ von Sabine Riedel. 

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Ich decke Missstände auf, recherchiere an Orten, wo selten einer hinguckt und gebe an der Reportageschule Recherchekurse für Nachwuchsjournalisten. 

 

Juliane Löffler

Seit Januar 2022 Redakteurin des Spiegel, zuvor Redakteurin Ippen Investigativ (früher: BuzzFeed News Deutschland)

Journalistin des Jahres 2021 (mit Daniel Drepper, Katrin Langhans und Marcus Engert)

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Ungerechtigkeiten aufzudecken und damit den Versuch zu unternehmen, die Welt zu einem gerechteren Ort zu machen.

Wo sehen Sie dies in der Branche als gelungen umgesetzt? Im Kleinen und im Großen machen Journalist:innen das eigentlich täglich. Die Frage ist aber nicht nur, wer spricht, sondern auch wer zuhört – und ob dann daraus Veränderungen folgen. Das aktuellste Beispiel, das mir dazu einfällt, sind die Kriegsgräuel in der Ukraine, über die viele mutige Kolleg:innen berichte.

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Ich höre Menschen zu, recherchiere und wenn alles gut geht veröffentliche ich dann meine Ergebnisse.

 

Nora Mbagathi, stellvertretend für ihre Mutter Bettina Gaus, die posthum den Preis für Ihr Lebenswerk bei der Wahl  Journalistinnen & Journalisten des Jahres 2021 erhielt.

Bettina Gaus (Foto: Geisler-Fotopress)

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Am wichtigsten ist für mich ein Bemühen um Ausgewogenheit, in dem gleichzeitigen Bewusstsein, dass Journalisten nie völlig objektiv sein können. Neutralität im Journalismus ist nicht dasselbe wie Neutralität im Gerichtssaal. Die Tatsache, dass schon die Frage, worüber man berichtet – einen Angriff im Jemen oder in der Ukraine; die Wahlen in Frankreich oder die in Kenia – bestimmt ist vom eigenen Weltbild, vom politischen Geschehen und den Interessen der Leserschaft, ist so elementar für die Einschätzung eines Berichts und geht doch immer wieder in den eigenen Lesegewohnheiten ebenso wie leider auch in öffentlichen Debatten unter. Professionelle Berichterstattung wäre unzulänglich verstanden, wenn man sie darauf beschränkt, dass man zwei gegenteilige Aussagen, die von Personen in der Politik oder im Weltgeschehen gemacht werden, einfach ohne Interpretation wiedergeben muss, um ’neutral‘ zu sein. Man kann – man sollte – sie für das Publikum einordnen und zum Beispiel Lügen und Unwahrheiten auch als solche bezeichnen. Meine Mutter hat als Krisenberichterstatterin in Ost und Zentral-Afrika beschrieben, was sie gesehen hat und was ihr gesagt wurde, aber das was ihre Texte hervorhob waren ihr eigenes kulturelles Verständnis und die Einordnungen, die sie durch ihre Bindung an die Region mit einbringen konnte. Ihre Interpretation einer Situation, als solche deutlich offen gelegt, war der Grund, warum man nicht statt ihres Reports einfach den Nachrichtenticker hätte lesen können. Als Aussenstehende bin ich auf dieses Selbstverständnis von Journalisten angewiesen um mir aus der Summe verschiedener Perspektiven meine Welt zu erklären – vor allem in Konfliktzeiten.

 

Palina und Christian Milling

Freie Journalistin/WDR, Freier Journalist/Tontechniker; Ahrtalradio

Sonderpreis der Wahl „Journalistinnen und Journalisten des Jahres 2021“

Das Ahrtal-Radio-Team: Christian und Palina Milling (Foto: privat)

 

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Es sind vor allem zwei Dinge: So viele Fakten und Hintergründe zu liefern, wie möglich. Und Transparenz.

Der Informationsfluss gleicht eher der stürmischen See. Es gibt sehr viele Angaben, manchmal mehr als man bewältigen, verarbeiten kann – und ein Ende ist oft nicht in Sicht. Daraus muss man verlässlich die Informationen herausfischen, die belegt und wirklich wichtig sind. Deshalb sind aus meiner Sicht auch Kontext und Hintergründe unabdingbar. Was sagt eine Zahl aus? Warum ist das Ereignis relevant? Was geschah davor? Welche Folgen könnte es haben? Statt schnelle „Info-Häppchen“ weiterzugeben, versuche ich mir Zeit zu nehmen, um auch ein größeres Bild zu den Fakten zu vermitteln.

Und dabei – auch unter Zeitdruck und beim gebotenen Quellenschutz – transparent zu machen, was man gesichert weiß, möglichst woher man was weiß, was noch unklar ist – und wenn es geht, auch warum es sich nicht klären lässt. Die Rezipient:innen müssen nicht nur Fakten wissen, sondern auch einschätzen können, wie die Recherche stattgefunden hat und wie glaubwürdig die Informationen sind.

Wo sehen Sie dies in der Branche als gelungen umgesetzt? Ich finde vor allem Langformate in diesem Zusammenhang zunehmend attraktiv. Wo es Platz und Zeit gibt für die Darstellung der Lebensrealitäten, aber auch der Vorgehensweise der Recherche. Für mich sind es die Dokumentationen von Arte, der ARD und des ZDF. In geschriebener Form – die „Reportagen“ und die Dossiers der Süddeutschen Zeitung.

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Im vergangenen Dreivierteljahr und bis heute habe ich mich journalistisch mit zwei der großen Krisen intensiv beschäftigen müssen/dürfen – mit der Flutkatastrophe im Ahrtal und aktuell mit dem Ukraine-Krieg. Ich versuchte und versuche nicht abzustumpfen, die Augen „wachzuhalten“, faktenbasiert und empathisch zu berichten. Und zu hinterfragen. Gerade wenn einem so viel menschliches Leid begegnet, ist es besonders anstrengend zu hinterfragen und zu überprüfen. Umso wichtiger ist es aber.

Nach dem Hochwasser und zurzeit während des Ukraine-Krieges gibt es wahnsinnig viele Informationen. Und damals wie heute ist es trotzdem so, dass wir nur wenige Dinge wirklich gesichert wissen oder unabhängig prüfen können. Deshalb halte ich mich an die beiden genannten Aspekte in Punkt 1. Alles, was nötig und möglich ist, um die Geschehnisse zu begreifen, zu liefern. Und das, was nicht geht, transparent zu machen.

 

Mareike Müller

Freie Journalistin und Filmemacherin 

Journalistin des Jahres 2021 in der KategorieTeam (mit Carl Gierstorfer)

Foto: Mareen Dost

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Guter Journalismus richtet den Blick auf Lebenswirklichkeiten, die für die Allgemeinheit im Verborgenen liegen, macht sie sichtbar und stößt damit gesellschaftliche Debatten an. 

Wo sehen Sie dies in der Branche als gelungen umgesetzt ? Die ARD-Doku „Wie Gott uns schuf“, in der sich MitarbeiterInnen der katholischen Kirche geoutet haben, fand ich sehr berührend und wichtig. 

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Ich übe mich immer wieder aufs Neue darin, meinem Gegenüber aufrichtiges Interesse entgegen zu bringen und eigene Gewissheiten zu hinterfragen, um andere Lebensrealitäten tatsächlich erfassen zu können. Die Schlüssel sind für mich Beobachten und Zuhören.

 

 

 

 

Christian Salewski

Freier Reporter für ZEIT und NDR, Co-Gründer „Flip“

Journalist des Jahres 2021 in der Kategorie Wirtschaft 

Foto: Flip

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Unabhängige Recherche, crossmediales Denken und eine unternehmerische Haltung nach dem Motto: Wer, wenn nicht wir?

Wo sehen Sie dies in der Branche als gelungen umgesetzt? Da muss ich natürlich Flip nennen, die – noch kleine – Medienmarke, die ich kürzlich mitgegründet habe. Wir recherchieren zur boomenden Nachhaltigkeitsmarkt, wollen Greenwashing aufdecken und zeigen, was wirklich hilft. Unsere Redaktion versteht sich als investigativ und lösungsorientiert. Wir sind gestartet als Newsletter, haben mit der Sneakerjagd aber auch ein erstes crossmediales Brett hingestellt, das in meinen Augen zeigt, wie kritischer und innovativer Wirtschaftsjournalismus aussehen kann. Unsere GPS-Recherche hat in Kooperation mit NDR und ZEIT ungefähr 10 Millionen Menschen erreicht – vom Promi-Insta-Feed bis zur Tagesschau.

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Ich habe jetzt zum zweiten Mal ein Medien-Startup mitgegründet und bin als freier Investigativreporter oft für crossmediale Dramaturgie und Organisation in größeren Projekten verantwortlich.

 

Justus von Daniels

Chefredakteur CORRECTIV (mit Olaya Argüeso Pérez)

Journalist des Jahres 2021 in der Kategorie Chefredaktion 

Foto: Correctiv

Was ist Ihnen wirklich wichtig im Journalismus? Zwei Dinge finde ich wirklich wichtig: zum einen Aufrichtigkeit bei der Arbeit. Dazu gehört auch, eigene Fehler oder Fehleinschätzungen zuzugeben und offen zu kommunizieren. Zum anderen das Interesse, die Nutzer:innen wirklich erreichen zu wollen.

Wo sehen Sie dies in der Branche als gelungen umgesetzt? Das kann ich nur sehr ausschnittartig beurteilen. Gelungen finde ich zurzeit funk und alle Versuche, aktuelle Themen und Recherchen auf möglichst vielen Ausspielwegen jeweils passend zu veröffentlichen (Print bis Instagram)

Was tun Sie selbst in eigener Sache dafür? Zum ersten Punkt: Wir bestehen nicht auf Meinungen, wir ändern Einschätzungen auf Basis von Fakten. Zum zweiten Punkt: Es ist unglaublich schwer, ein Rezept zu finden, wie wir Nutzer:innen in der Breite erreichen können. Daher ist unsere Devise: möglichst viel ausprobieren.

 

Alle weiteren Infos zu den „Journalistinnen und Journalisten des Jahres 2021“ gibt es hier.
Die Preisverleihung findet am 23. Mai in Berlin statt. Für die freundliche Unterstützung der Veranstaltung danken wir: 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 
Zudem danken wir unseren Kooperationspartnern
Katjes, VDP. Die Prädikatsweingüter, Lamy, Hotel Oderberger und CaterMatch.