WPPC 2020: Im Zeichen der Jugend

Nicht nur die beiden Hauptgewinner der Wahl zum Pressefoto des Jahres 2020 zeigen: Die junge Generation verschafft sich immer mehr Gehör – und geht bei ihrem Protest oft andere, friedlichere Wege. Der Wettbewerb verdeutlicht ebenso, wie sich der Fotojournalismus langsam wandelt. Eine Analyse von Florian Sturm: 

Wettbewerbe, bei denen die besten Bilder des vergangenen Jahres prämiert werden, eint vor allem: der Blick zurück. Insbesondere, wenn dieser Wettbewerb im Fotojournalismus angesiedelt ist, jenem Genre, das per se über Geschehenes berichtet. Umso erfreulicher, und, ganz ehrlich, auch erstaunlicher, ist die Auswahl der Finalisten des World Press Photo Contest 2020 (WPPC). Denn dort ist es den Jurymitgliedern gelungen, mit Bildern von gestern auf die Hoffnungen, Ängste und Herausforderungen von morgen aufmerksam zu machen.

Die 63. Auflage des weltweit renommiertesten Wettbewerbs für Fotojournalismus richtet den Blick nach vorn. Wie? Indem die Belange der Jugend so stark vertreten sind wie nie zuvor in der Historie der 1955 in Amsterdam gegründeten Auszeichnung. „Wir sehen immer mehr, wie junge Menschen rund um den Globus Initiative ergreifen und kritische soziale und politische Positionen beziehen. Bei den Einsendungen in diesem Jahr überraschte mich, wie oft junge Frauen an der vordersten Front von Revolutionen fotografiert wurden“, sagt der Juryvorsitzende Lekgetho Makola.

Gleich drei der sechs Nominierungen in der ersten Hauptkategorie, dem Pressefoto des Jahres, beschäftigen sich mit den Belangen der jungen Generation:

Yasuyoshi Chiba gelang mit seinem Porträt eines jungen Sudanesen ein fast schon ikonisches Bild, das schließlich auch den Sieg davon trug: Das  Pressefoto des Jahres „Straight Voice“  zeigt einen jungen Sudanesen, der, illuminiert von den Smartphone-Displays gleichgesinnter Oppositioneller in Khartum für eine zivile Regierung protestiert. Nicht mit Pistolenkugeln oder Steinen. Seine Waffe sind Worte. Er zitierte ein Gedicht. „Im Hintergrund riefen die anderen immer wieder ‚Thawra‘, das arabische Wort für ‚Revolution‘. Und sie klatschten.“ Chiba, seit 2011 Fotograf für die Agence France-Presse und für Ostafrika sowie den Indischen Ozean zuständig, war für diese Reportage das erste Mal im Sudan. Die Mimik und Stimme des jungen Sudanesen hätten ihn vollkommen fasziniert, sagt er: „Diese gesamte Situation war wundervoll. Allein die Tatsache, dass Leute ihren Protest unter diesen schwierigen Bedingungen mit Gedichten ausdrücken.“ Durch die Auszeichnung, so hofft er, könne er die Situation im Sudan sowie die Wahlen, die 2022 im Land stattfinden können, stärker ins Bewusstsein der Öffentlichkeit rücken.

Der Fotograf des  WPPC-Siegerfoto 2020: Yasuyoshi Chiba / Agence France-Presse

Farouk Batiche fotografierte die maßgeblich von Studierenden initiierten Proteste der algerischen Bevölkerung gegen den langjährigen Präsidenten Abd al-Aziz Bouteflika;

Mit diesem Foto war Farouk Batiche / dpa für den Hauptpreis nominiert.

Und der polnische Fotograf Tomek Kaczor war mit einem eindrücklichen Porträt der 15-jährigen Armenierin Ewa, die am sogenannten Resignation Syndrome leidet, im Rennen um den Hauptpreis.

Mit diesem Portrait schaffte es Tomek Kaczor, Fotograf der Gazeta Wyborcza, ebenfalls ins Finale um den Hauptpreis der WPPC

Ein ähnliches Bild zeigt sich in der zweiten Hauptkategorie, der erst im vergangenen Jahr eingeführten Fotostrecke des Jahres. Der Däne Nicola Asfouri schaffte es mit einer Serie über die Studentenproteste in Hongkong unter die Top drei; und Romain Laurendeau widmet sich in „Kho, the Genesis of a Revolt“ den Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die mit dafür sorgten, dass Präsident Bouteflika, anders als öffentlich angekündigt, nicht für eine fünfte Amtszeit kandidierte.

Foto: Nicole Asfouri
Foto: Romain Laurendeau

Auch das Langzeitprojekt der türkischen Fotojournalistin Sabiha Çimen richtet den Blick auf die Jugend. In „Hafız: Guardians of the Qur’an“ (Hafiz: Hüter des Koran) porträtiert sie Koranschülerinnen, deren Ziel es ist, die heilige Schrift komplett auswendig zu können.

Foto: Sabiha Çimen

Mehr Ruhe, weniger Spektakel

Ein Trend, der bei der letzten Wettbewerbsrunde begann, schreibt sich in diesem Jahr fort: Das, was den WPPC einst ausmachte – spektakuläre, offensichtlich gewaltgeladene Motive, die die Nachrichtenkategorien dominieren –, gibt es auch 2020 kaum. Einzig die Bilder der verheerenden Waldbrände in Australien und den USA sowie ein Motiv von Fabio Bucciarellis Chile-Serie funktionieren nach dem klassischen Eye-Catcher-Prinzip, wobei auch dort Noah Bergers Foto „Battling the Marsh Fire“ durch seine Komposition und Vielschichtigkeit herausragt.

Foto: Fabio Bucciarelli für L’Espresso
Foto: Noah Berger für Associated Press

Ganz allgemein sind die Motive indirekter, zeigen Hinterbliebene statt Opfer, Folgen und Zusammenhänge statt des plumpen Ist-Zustandes. Außerdem gibt es erstaunlich viele Schwarzweißaufnahmen unter den Finalisten. Das visuelle Geschrei um Aufmerksamkeit, es verstummt im Fotojournalismus. Und das ist gut so. Erstens, weil die Branche ohnehin zur Überreaktion neigt. Zweitens, weil die digitale Bilderflut an den meisten von uns unbeachtet vorbeirauscht und der Fotojournalismus neue, ruhigere Erzählformen braucht. Und drittens, weil die Dinge schlicht komplexer sind, als das, was ein rein nachrichtliches Foto vermitteln kann. „Gute Bilder sollten inspirieren und über das eigentlich Gezeigte hinausgehen, Emotionen wecken und die Betrachter zum Nachdenken animieren“, sagt Jury-Mitglied Chris McGrath, der bereits drei Mal beim WPPC ausgezeichnet wurde. Diese Komplexität zumindest anzudeuten, ist Aufgabe des Fotojournalismus. Und sie gelingt immer besser.

Nikita Teryoshins Foto „Nothing Personal – the Back Office of War“ vom Besuch einer Waffenmesse in Abu Dhabi verdeutlicht diesen Trend. Es geht um die Zusammenhänge des Kriegsgeschäfts, das „Wer? Wie? Warum?“ statt des naheliegenden „Was?“. Die Nominierung des in Deutschland lebenden Russen Teryoshin belegt auch einen stilistischen Wandel des Wettbewerbs: Sein Foto kommt beinahe wie ein Hochglanz- oder Werbemotiv daher. Die Jury diskutierte, inwiefern das noch Fotojournalismus sei oder doch eher Fine-Art- beziehungsweise Konzeptkunst. Letztlich setzte sich Teryoshins Bild durch. Zum Glück. Denn es zeigt, wie das Genre auch anders funktionieren und sich weiterentwickeln kann.

Nikita Teryoshin: „Nothing Personal – the Back Office of War“ vom Besuch einer Waffenmesse in Abu Dhabi

Viele Fotoprofis erstmals dabei

Erfreulich ist auch der hohe Anteil an Neulingen unter den Finalisten. Von den 44 Nominierten sind 30 zum ersten Mal dabei, auch aus eher fotofernen Ländern wie Südkorea oder Peru. Lange war der Wettbewerb ein Stell-dich-ein der etablierten Branchengrößen, sowohl in Bezug auf einzelne Fotografen (ja, es sind nach wie vor in erster Linie Männer) als auch die Medienhäuser. Verständlich, könnte man sagen, denn die großen Redaktionen und Verlage haben schlicht das Geld, ihre besten Kräfte zu den entscheidenden Ereignissen und relevantesten Entwicklungen zu schicken. Und der WPPC spiegelt nun mal wider, welche dieser Geschichten die gesellschaftliche Debatte in den vergangenen zwölf Monaten prägten.

Warum aber immer auf externe Fotografinnen und Fotografen setzen, die für eine Story anreisen und im Idealfall auf die Hilfe eines Fixers zurückgreifen, statt gezielt Profis aus der jeweiligen Region zu engagieren? Mit Kontakten, Zugang, Hintergrundwissen, unvoreingenommeneren Perspektiven. Sicher, das geht nicht für jede Reportage, aber wünschenswert wäre mehr Ausgeglichenheit in diesem Bereich des Fotojournalismus allemal (siehe dazu: „Für ein echtes Bild der Welt“ in medium magazin 1/2020).

Fest steht allerdings auch, dass die Jury die Fotos und Serien anonym bewertet. Erst wenn die Finalisten feststehen, wird klar, von wem die Bilder stammen. Es geht also nicht um große Namen, sondern gute Bilder. Im Umkehrschluss bedeutet das zwei Dinge: Erstens steigt die Zahl talentierter, engagierter Fotografinnen und Fotografen, die ihre Bilder beim WPPC einreichen; zweitens öffnet die Jury ihren Blick für neue Themen und Perspektiven. Ein Schachzug, der längst überfällig war – und sich wohl auch in der Besetzung des Juryvorstandes widerspiegelt. Den hat diesmal Lekgetho Makola aus Johannesburg inne. Er ist der erste Afrikaner, der die WPPC-Jury leitet.

Die feierliche Preisvergabe, die am 16. April im Amsterdam hätte stattfinden sollen, wurde aufgrund der Corona-Pandemie abgesagt. Dort sollten auch zwei deutsche Fotografen ausgezeichnet werden:

Maximilian Mann vom jungen Docks Collective wurde mit seiner Serie „Fading Flamingos“ über den austrocknenden Urmia-Salzsee im Iran in der Kategorie „Environment – Stories“ mit dem zweiten Platz ausgezeichnet.

Foto: Maximilian-Mann, DOCKS-Collective

Und Oliver Weiken, seit 2017 dpa-Fotograf in Kairo, belegte den dritten Rang in der Kategorie „Spot News – Stories“ mit einer Strecke über einen Terroranschlag in Ägyptens Hauptstadt.

Foto: Oliver-Weiken, dpa

Info:

World Press Photo

Die Organisation wurde 1955 in Amsterdam gegründet und zeichnet jährlich die besten Pressefotos sowie, seit 2011, digitalen Storytelling-Projekte des Jahres aus. In diesem Jahr beteiligten sich 4.282 Fotografen aus 125 Ländern und sandten 73.996 Bilder ein. Die Sieger der beiden Hauptkategorien (Pressefoto des Jahres, Fotostrecke des Jahres) erhalten unter anderem ein Preisgeld von jeweils 10.000 US-Dollar. worldpressphoto.org

Der Autor: Florian Sturm ist freier Journalist in Leipzig und Redaktionsmitglied des medium magazins.   Kontakt: florian.sturm (@) posteo.de