Zukunft des Journalismus: Die Eierfrage

Die Zukunft der Medien besteht darin, sich und die Leute, für die man arbeitet, ernst zu nehmen. Dazu braucht man nicht mehr Journalismus, sondern etwas anderes: Courage.

Ein Essay von Wolf Lotter

1. Die Einweisung

Wer die Zukunft verstehen will, muss die Geschichte kennen. Das ist der Vorgang, der zu uns geführt hat, dazu, dass die Leute so sind, wie sie sind, so denken, wie sie denken, und auch so handeln. Wer seine Geschichte nicht kennt, der hat sie trotzdem, nur bleibt er wehrlos, denn auch was nicht bewusst ist, ist dennoch da, und es führt dazu, dass alles so bleibt, wie es immer schon war, statt dass es endlich so wird, wie es sein könnte. 

Wem das zu kompliziert ist: Wer eine Zukunft haben will, muss aufhören, sich Illusionen zu machen. Das ist auch hier der Sinn der Geschichte, auch dieser hier. 

Woody Allen erzählt in „Der Stadtneurotiker“ eine Geschichte, die dazu passt. 

Kommt ein Mann zum Arzt und sagt: „Herr Doktor, Sie müssen mir helfen.“ 

„Ja, wo fehlt’s denn?“ 

„Nein, mir gehts gut, aber mein Bruder glaubt, er ist ein Huhn.“ 

„Ach du meine Güte“, sagt der Arzt. „Das ist ja ein Ding. Am besten lassen wir ihn mal ein paar Tage einweisen, dann sehen wir weiter.“ 

„Das geht nicht!“, ruft der Mann empört: „Ich brauch doch die Eier!“ 

Das war 1977. 

Wolf Lotter, Jahrgang 1962, ist seit Ende der 80er-Jahre Journalist mit Schwerpunkt Transformation. Er war u.  a. Gründungsmitglied von „Brand eins“ und dort bis 2022 mehr als zwei Jahrzehnte lang Leitessayist. Lotter schreibt regelmäßig für derstandard.at und „taz Futurzwei“, führt den Newsletter „Lotters New Management“ bei Haufe und dort auch den Podcast „Trafostation“, in dem er mit Christoph Pause monatlich ein zentrales Transformationsthema zerlegt. Er ist überdies seit 2022 Programmrat des Österreichischen Rundfunks (ORF). Sein aktuelles Buch zum Thema Diversity und Transformation heißt „Unterschiede. Wie Vielfalt für mehr Gerechtigkeit sorgt“ und ist in der Edition Körber erschienen. www.wolflotter.de (Foto: Katharina Lotter)

Ein guter Spaß, der sich täglich in der Abwehrhaltung verwöhnter Konsumgesellschaften vor dem Hintergrund der Transformation von der Indus-trie- zur Wissensgesellschaft abspielt, in allen Gewerken, besonders in jenem, in dem vermeintlich das Neue eine besondere Rolle spielt, im Journalismus. Da glaubt einer, er ist ein Huhn, hat also einen Dachschaden, aber sein Bruder, der darauf seine Existenz baut, weil er, wie wir alle, die Eier braucht, der ist komplett durchgeknallt und eigentlich nicht mehr heilbar. Am besten, man überlässt ihn seinem Schicksal, zieht aus und fängt neu an. Schließlich geht es um die Eier. So oder so.

Lange bevor ich Journalist wurde, habe ich eine Lehre gemacht, Sortimentsbuchhändler, aus Verlegenheit, irgendwas mit Büchern, wenn man gern liest, so wie Journalisten Journalisten werden, weil sie in Mathe nicht gut waren. Ich hatte letztlich Glück, einen guten Chef, der mir viel Freiraum und Ermutigung gab. Trotzdem habe ich noch am Tag meiner Abschlussprüfung gekündigt. Der Strukturwandel im Buchhandel war schon überall sichtbar. Aber auf die Transformation reagierte die in ständischer Ordnung erstarrte Branche erst mit Empörung und Wut, dann mit Ignoranz. Die Kunden wollen was anderes? Dann sind sie eben dumm. Ein Wiener Großbuchhändler erklärte mir, dem 18-Jährigen aus der Provinz, dass er sich nicht von „Simmel-Lesern vorschreiben“ lasse, wie sein Geschäft laufen sollte. Aber auch 18-Jährige aus der Provinz, jung, naiv und alles andere als weise, konnten bemerken, dass an dieser Haltung etwas faul ist. Das war 1980. 

2. Punks und Personal Computer

In den 80er-Jahren fanden sich Leute, die Veränderung irgendwie gut fanden, weil sie neu war und das Alte so gegenwärtig, bei den Punks und beim Personal Computer, der für etablierte Büromaschinenhersteller das war, was die Sex Pistols für Peter-Alexander-Fans waren. Wenn die Sex Pistols „No Future“ sangen, dann meinten sie ja nicht, dass es für niemanden eine Zukunft gäbe, sondern dass man sich mit den alten Tricks, dass morgen alles besser würde, wenn man nur heute so weitermachen würde wie bisher, zum Teufel scheren sollte. Das war mehr jenes „Alles Ständische verdampft“ und „Alles Alte wird hinweggefegt“ aus dem von Karl Marx und Friedrich Engels 1848 verfassten Gedicht, das bis heute irrtümlicherweise für ein Manifest gehalten wird und gleichzeitig das genaue Gegenteil des menschenverachtenden Kollektivismus ist, der aus diesem Satz hervorging. 

Die Punks sagten: Wir kennen die Geschichte. Wir machen da nicht mit. Das ist Transformation. Zu wissen, wer man ist, und sich das Recht darauf, was man werden könnte, selbst herausnehmen. Keine Veränderung, die den Namen verdient, kommt ohne diese Idee aus. Doch der Journalismus tat sich lieber selbst leid, beklagte den Abschied vom Bleisatz, so wie er heute noch das Ende des Papiers betrauert. Leute, die immer vom Neuen reden, können sich an ihre eigene Ware nicht gewöhnen. Sie schmeckt ihnen nicht. Nur die anderen sollen sie essen. 

So wurde alles Digitale zum Feindbild, zum Inbegriff des ungeliebten Wandels, und alles Neue ward alsbald als neoliberal verschrien. Damit war man rein umschulungstechnisch aus dem Schneider, so doof konnte man sich gar nicht anstellen, und überdies moralisch überlegen. Nur eine kleine Avantgarde erkannte das Potenzial von Netzwerken für die neue Medienwelt (ich grüße an dieser Stelle den großen Peter Glaser), doch die hörte man nicht, marginalisierte sie. Noch Anfang der 90er-Jahre, als ich mit einem Kollegen eine der ersten Titelgeschichten zum Internet für ein Wiener Wochenmagazin verfasste, nahm mich ein leitender Redakteur – natürlich wohlwollend – zur Seite und erklärte mir, dass, wenn der Titel am Kiosk schlecht laufen würde, meine Karriere hier beendet wäre. Viele wären ohnehin der Meinung, dass diese „Scheißcomputer die Branche kaputt machen“. 

3. Bubbles und Ideologen

Die Sache ging für mich gut aus, oder sagen wir: glimpflich, denn die Leserinnen und Leser kauften das Blatt und mochten den Titel. Die „Menschen da draußen“, so lernte ich endgültig, sind weit bessere Verbündete als die Redaktionsbürokraten, die irgendwann den Unsinn, den sie über die Welt in ihrem Flurfunk verbreiten, selbst glauben. Der „Scheißcomputer“ aus dem Jahr 1993 wurde bald zum „Scheißinternet“ und zu den „Scheiß-Social-Networks“, in denen ein anständiger Journalist nichts zu suchen hatte, denn das sei ja alles nur Eitelkeit, was fast immer von denen kam, die weder am Kiosk noch im Internet auf ein interessiertes Publikum stießen. Um ihre „eingerosteten Verhältnisse“ nicht zu gefährden, wurden sie bald die wichtigsten Verbündeten reformunfähiger Medienmanager, die in solchen Redaktionsbürokraten ihren idealen Komplizen fanden: Einer konnte den anderen darin bestätigen, dass die Transformation bloße Übertreibung wäre, kein Handlungsbedarf bestehe und es im Übrigen alle anderen auch nicht anders machen würden. Eiermänner, so weit das Auge reicht. Innen alles in Butter, draußen alles böse. Und jede Kritik, jeder Zweifel: Hochverrat. Es sind geschlossene Anstalten, keine offenen Foren aus Vielfalt und Kritikfähigkeit. Nun kann man aber mit den Fähigkeiten, die einen als Sektenführer (m/w/d) herausragend machen, keine Organisationen und Menschen durch die Transformation führen. Vielleicht ist das schlicht auch zu viel verlangt, nicht nur von einzelnen Menschen, sondern auch vom ganzen System. Schauen wir mal genauer hin.

4. Das Ende des Journalismus. Eine Befreiung

Journalismus – das ist ein „-ismus“. Nun kann man in der Wikipedia nachschlagen, was das ist. Ein „Ismus“, heißt es dort, benennt ein „Glaubenssystem“, eine „Lehre“, „Ideologie“ bzw. eine „Weltanschauung“, getragen von einem „Kollektiv von Anhängern“, die sich als „Zeichen der Gruppenzugehörigkeit, um sich mental von etwas zu distanzieren oder sich mit etwas zu identifizieren“, in dieses Glaubenssystem begeben. Auf neudeutsch würden wir das also eine Bubble nennen. Der Glaube bewahrt vor besserem Wissen, vor der Realität. Solche Kollektive denken nach innen, orientieren sich an den Worten der Führung, verhalten sich also eher wie Funktionäre als jene Freidenker, die sie so gerne vorgeben zu sein. Es ist ein Klima, das Opportunismus und Establishment fördert. 

Das Volk? Die Leser? Irrelevant. Laien, die erzogen werden müssen.

Es ist kein Widerspruch, dass diese Funktionäre gerne von Visionen und Utopien sprechen. Das sind jene Träume, die nie Wirklichkeit werden, weil sie in ferner Zukunft stattfinden können – und so die heute mühsamen Umbauarbeiten ersparen. In Lampedusas „Der Leopoard“ heißt es, es müsse sich alles ändern, damit alles so bleiben kann, wie es ist. Das ist eine Lüge. Die Wahrheit ist: Wenn sich alles verändert, dann auch wir, unsere Arbeit, die Organisationen, die Medien selbst, die Art und Weise der Geschäftsmodelle. All das hat sich längst verändert, aber immer noch verhalten sich viele so, als ginge sie das nichts an. An die Stelle der Einsicht tritt der Relaunch, der branchentypische Selbstbetrug, bei dem ernsthafte Veränderungen nicht in Erwägung gezogen werden, dafür die Typo geändert und ein paar Fotografen gefeuert, damit alles ein bisschen anders aussieht, ohne es zu sein. 

Die Zeiten haben sich doch geändert, niemand sagt mehr „Scheißcomputer“, sondern lobt den Fortschritt, um ihn dann klammheimlich, auf den ausgedehnten Hinterbühnen des Gewerbes, abzumurksen. Das Internet hat nicht die Medienkrise verursacht. Die Medienleute haben die Medienkrise verursacht. Das Leugnen macht die Tat nicht ungeschehen. 

Krise heißt auch Wendepunkt, also eine Möglichkeit, „unsere Verhältnisse mit nüchternen Augen anzusehen“, wie es in dem „Gedicht“ aus 1848 heißt. Hier hört die Vergangenheit auf, beginnt die Gegenwart, und sie baut nicht auf Glauben und Ignoranz, sondern Selbsterkenntnis, Mut und ernster Bemühung auf, Respekt vor innerer Vielfalt, echter Diversity also, und einem geklärten Verhältnis zum Publikum, das weder in Liebdienerei noch Ignoranz noch Opportunismus besteht, sondern in einem Gespräch zwischen Erwachsenen. 

Die Journalisten werden nicht das Publikum belehren, sondern das Publikum die Journalisten. Das ist die einzig wahre harte Währung, die Zukunft, die immer schon da war. 

Diese Zukunft hört keinen Flurfunk und bestätigt ihre Welt nicht in identitären Bubbles in Teeküchen und Konferenzräumen. Sie geht raus und macht Gesprächsangebote. Sie fragt nach. Sie nimmt ernst. Sie ist selbstbewusst, aber nicht selbstgerecht.

Für diese Transformation müsste sich niemand verbiegen, auch nicht die Welt neu erfinden. Sondern sich nur an Leute wie Rudolf Augstein erinnern, seinen Satz vom „Schreiben, was ist“. Die Wirklichkeit genügt. Wir schreiben keine Gebrauchsanweisungen für das Leben anderer Leute, wir unterstützen sie mit einer Dienstleistung, mit Informationen, Hinweisen, Einwenden, Fragen und zuweilen auch dem Versuch einer Antwort dabei, das selbst hinzukriegen. Wir sind keine Missionare, wir sind Dienstleister, deren Service in einer turbulenten Welt ziemlich wichtig ist, für die Demokratie, Freiheit und Zivilgesellschaft. Das ist ein Job für Erwachsene. Erwachsene sind Leute (m/w/d), die sich nicht einbilden, Eier zu brauchen, sondern welche haben. Die keine Angst haben, was der Flur sagt, aber Respekt vor dem, was „die Leute da draußen“ denken. Das ist eine ziemliche Zeitenwende für die meisten Redaktionen. Aber mit solchen Leuten kann man großartige, unverzichtbare und profitable Medien machen. Heute und morgen. 

Aber das wisst ihr ja selbst, oder? Macht mal. 

 

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