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Medium Magazin 02/2021

EDITORIAL / Alexander Graf, Chefredakteur

 

Hören wir überhaupt richtig zu?

Warum mich ein Fehler bis heute umtreibt. Und was das mit unserem aktuellen Dossier zu tun hat.

Ich habe in meinem Volontariat einen Fehler gemacht, der mich bis heute prägt. Mein Verständnis von Journalismus war damals ziemlich idealistisch: Ich wollte vor allem große Geschichten erzählen, wollte die Ambiguität unserer Welt in nuancierten Texten aufzeigen, wollte Menschen eine Stimme geben, denen sonst keiner zuhört. Zwei von diesen Menschen habe ich dabei tief enttäuscht.

Die beiden hatten erschütternde persönliche Schicksale zu erzählen. Ich traf sie also mehrmals, hörte ihnen stundenlang zu, kritzelte Notizblöcke voll, sprach mit etlichen Expertinnen – und schrieb ihre Geschichte nie auf. Ich bekam das Thema einfach nicht in den Griff. Bei jedem neuen Entwurf hatte ich das Gefühl, der Komplexität und Tiefe dieser Biografien nicht gerecht zu werden. Fast über ein Jahr verdrängte ich in einer Mischung aus Eitelkeit und Scham diese Erkenntnis, bis ich auf das wiederholte Nachfragen der Protagonisten schließlich eine verdruckste Mail samt Bitte um Entschuldigung schrieb.

Was mussten diese Menschen denken, wie mussten sie sich fühlen? Sie hatten sich mir, einem Unbekannten, vollkommen geöffnet – aber wozu? Ich glaube, dass ich mit dieser Erfahrung nicht allein bin. Als Journalistinnen und Journalisten bedienen wir uns regelmäßig der Geschichten anderer Leute. Wir tun das meist mit guten Absichten. Wir denken dann wirklich, dass unsere Reportagen vergessene Schicksale sichtbar machen. Dass wir mit unseren Recherchen Missstände aufzeigen. Und wenn die Geschichte mal nicht klappt, dann ist das halt so. Weiter geht’s. Aber machen wir uns Gedanken darüber, wie sich unsere Protagonistinnen und Gesprächspartner anschließend fühlen? Dabei geht es noch nicht einmal nur um die großen emotionalen Geschichten oder nie veröffentlichte Texte. Immer wieder fragen mich Bekannte nach ihren Begegnungen mit Journalistinnen und Journalisten irritiert, ob das eigentlich so üblich wäre. Dass etwa der Reporter vor dem Recherchegespräch ganz engagiert und nahbar gewesen sei, anschließend aber nur noch nach mehrmaliger Nachfrage unwillig und knapp auf Mails geantwortet habe? Bei vielen hinterlässt das einen unangenehmen Beigeschmack.

Ich glaube, dass wir „Zuhören“ nicht bloß als Mittel zum Zweck, sondern als elementare journalistische Fähigkeit begreifen müssen. Nicht nur als selbstbezogene Informationsaufnahme, sondern als Akt der Empathie und Aufrichtigkeit. Und vor allem nicht als Tätigkeit, die dann endet, wenn wir unsere Geschichte im Kasten haben.

Wir haben dem Zuhören deshalb ein Dossier gewidmet. Darin erzählt eine junge Frau, was sie im Umgang mit Medien erlebt hat. Wir fragen aber auch: Wie gelingt ein Dialog in Zeiten des Hasses? Und woher kommt angesichts von Podcast-Boom und Clubhouse-Hype eigentlich diese neue Sehnsucht danach, anderen zuzuhören?

 

Die Branche macht es sich zu einfach

Zugehört haben auch Eva Hoffmann und Pascale Müller, die beiden Autorinnen unserer Titelgeschichte. Sie haben sich nach den Compliance-Vorwürfen gegenüber „Bild“-Chefredakteur Julian Reichelt auf die Suche gemacht. Denn eines ist klar: Allzu wohlfeil war die Selbstgefälligkeit, mit der die Affäre von der übrigen Branche beobachtet wurde: „War ja klar, dass es bei den Machos vom Boulevard so zugeht.“ Die Wahrheit ist: Toxische Führungskultur gibt es in der gesamten deutschen Medienlandschaft – egal, ob im distinguierten Feuilleton oder der Lokalsportredaktion, ob bei der Wochenzeitung oder der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt. Uns ging es nicht darum, einen konkreten Fall veröffentlichungsreif zu recherchieren. Wir wollten ein grundlegendes Problem aufzeigen. 189 Journalistinnen und Journalisten haben ihre Erfahrungen geschildert. Mit 25 von ihnen haben die Reporterinnen ausführliche Gespräche geführt. Um ehrlich zu sein: Ich war selten nach einer Lektüre so wütend und frustriert.

Wie Müller und Hoffmann ihre Recherche erlebt haben und was aus ihrer Sicht zu tun ist, darüber werde ich mit den beiden freien Journalistinnen beim „medium magazin Talk“ sprechen. Unser neues Live-Video-Format gibt es künftig zu jeder Ausgabe. Bei der Premiere am 12. Mai, 17.30 Uhr, werden außerdem Moritz Tschermak und Mats Schönauer vom „Bildblog“ zu Gast sein. Die beiden Journalisten beschäftigen sich seit Jahren kritisch mit der Arbeit der größten deutschen Boulevardzeitung und haben daraus jetzt ein Buch gemacht, über das wir sprechen werden.

Ich würde mich freuen, wenn Sie uns dabei zuhören – und natürlich auch mitdiskutieren.

(Anmeldungen an: events@oberauer.com)

PS: Die Pandemie hat vergangenes Jahr auch unseren Veranstaltungsformaten – „Journalistinnen und Journalisten des Jahres“ und „Top 30 bis 30“ – einen Strich durch die Planung gemacht. Wer unsere Herausgeberin Annette Milz kennt, kann sich denken, dass sie sich davon nicht entmutigen lässt. Es freut mich also, dass es mittlerweile neue Termine für beide Events gibt: Am 21. Juni findet die „Top 30 bis 30“-Konferenz in Frankfurt/Main statt, am 2. August werden die besten Journalistinnen und Journalisten des Jahres 2020 in Berlin ausgezeichnet.

 

Die Ausgabe medium magazin Nr. 02/2021 mitsamt Titelgeschichte über Toxische Arbeitskultur im Journalismus und einem Dossier übers Zuhören ist ab sofort digital oder als Printausgabe hier erhältlich oder im ikiosk.
 

 

 

 

 
 
 
 
 
 
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