Lisa McMinn (Foto: Shirin Siebert)

Lisa McMinn

Textchefin, stv. Chefredakteurin, Vice


Wichtigste Stationen?



Nach dem Abi bin ich in meinem Polo für eine Lokalzeitung mit Notizblock über die Dörfer gefahren, typische Vereinsberichterstattung. Das war für mich die beste Schule. Jeden Tag mit Leuten sprechen und jeden Tag Artikel schreiben, das fühlte sich nach Journalismus an. Zum Studium ging ich nach Berlin, Publizistik und Politikwissenschaften. Schließlich wurde ich Redakteurin der Talkshow Menschen bei Maischberger. Da kamen Leute mit großen Namen – Peter Altmaier, Alice Schwarzer, Klaus Wowereit – und ich lernte, dass das auch nur Menschen sind, die vor der Sendung nochmal fragen, wo das Klo ist. Da habe ich den Unterschied zwischen Ehrfurcht und Respekt gelernt, das hat mich gerade gerückt.

Vorher und nachher habe ich zahlreiche Praktika gemacht, u.a. im ARD Studio Washington und bei Correctiv, wo ich Recherchieren gelernt habe. Aber eigentlich wollte ich zurück auf die Straße. Also ging ich auf die Nannenschule, in der ich erst wirklich lernte, was Schreiben bedeutet. Mit meiner Klasse gewann ich den Grimme Online Award für das Projekt eindeutschesdorf.de. Auch dank dieses Projekts konnte ich für die ZEIT schreiben und landete schließlich bei GEO, für die ich seitdem als freie Reporterin gearbeitet habe. Mit meinem Text über das Leben der Wandergesellen kam ich 2019 unter die TopTen des Hansel-Mieth-Preises. Eineinhalb Jahre habe ich als freie Journalistin gearbeitet, jetzt bin ich Textchefin und stellvertretende Chefredakteurin von VICE.com – eine ganz andere Arbeit, ich schreibe kaum. Aber ich habe die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen auf die Auswahl der Menschen, die wir zeigen und wie wir ihre Geschichten erzählen. Das ist großartig.

Auf welche Geschichte sind Sie besonders stolz?



Ich glaube, dass meine Ich-Reportage „Gehen oder bleiben“ über Jugendliche, die auf dem Dorf aufwachsen und nicht weg wollen (erschienen in der ZEIT) besonders gelungen ist, weil ich dachte, sie würde nie veröffentlicht werden. Sie war erst einmal nur für ein Projekt der Journalistenschule gedacht und deshalb war ich darin unfassbar ehrlich und weitestgehend konventionslos. Da ist der Groschen gefallen. Wenn man vom Herz weg schreibt, dann schreibt man gut. Besonders stolz bin ich aber auf die (Auslands)Reportagen, die in GEO erschienen sind. Dort hat man Platz zum Schreiben – und zum Denken.

Was planen Sie als nächstes?
 

Seit 1. Juli bin ich stellvertretende Chefredakteurin von VICE.com für Deutschland, Österreich und die Schweiz. Meine Aufgabe ist hier vor allem die Textarbeit. Mir wurde gelehrt, Geschichten müssten mit einem Knall anfangen und mit einem Gewitter weitermachen, um Lesende bei der Stange zu halten. Außerdem brauche es immer einen Helden. Beides halte ich für Quatsch. Wer eine Geschichte erzählen will, muss ihren Kern finden, seine Protagonisten verstanden haben, in ihr Leben eintauchen oder wenigstens das Gefühl kennen, das er oder sie vermitteln will. Dann sind Texte nahbar und echt, dann finden Menschen sich darin wieder. Das will ich unseren AutorInnen beibringen. So lange, bis es mich selbst wieder auf die Straße zieht.

Wie würden Sie gerne in zehn Jahren arbeiten?
 


In einer Redaktion voll mit Menschen. Ich brauche KollegInnen. Es ist unmenschlich, dass immer mehr Redaktionsprozesse ausgelagert werden. Das macht Redaktionen zu Verwaltungszentren und Freie zu sich selbst verkaufenden Schreibmaschinen. Die besten Ideen entstehen in einem festen Team, das sich kennt und vertraut. Ich arbeite auch gerne mal zu Hause oder im Café und kapsle mich ab, aber man braucht einen Ort, an den man zurückkommen und an dem man gemeinsam denken und kreativ sein kann. Für viele mag das klingen wie eine Utopie – das ist doch tragisch. Dass in dieser Redaktion Text, Ton, Social Media und Video zusammen gedacht werden, ist für mich selbstverständlich.

Welcher gute Rat hat Ihnen in Ihrer Laufbahn besonders weitergeholfen?
 

Der kam nicht von einem Journalisten, sondern von einer alten Buchhändlerin. Vergangenes Jahr habe ich für ein Buch mit Klaus Brinkbäumer und Samiha Shafy Hundertjährige interviewt. Eine sagte zu mir: „Seien Sie nie zu ehrgeizig, Ehrgeiz macht krank“. Bis dahin hielt ich Ehrgeiz für ein Mittel, um besser zu werden in dem, was ich liebe – auch im Schreiben. Dank ihr weiß ich jetzt, dass Zielstrebigkeit völlig ausreicht. Viele Abzweigungen machen sich später entweder bezahlt oder einfach nur Spaß und damit sind sie schon gut. Und manchmal muss man sogar stehen bleiben und einfach nur gucken, was um einen herum passiert. Hauptsache, man verliert das Ziel nicht aus den Augen.

Welche/r Kollege/in hat Ihnen besonders geholfen?
 



Jürgen Schaefer, der stellvertretende Chefredakteur der GEO, engagierte mich als freie Autorin, obwohl ich noch an der Journalistenschule lernte und er nur einen Text von mir kannte. Wir lernten uns kennen und er hat mir einfach vertraut. Das hat mich sehr bestärkt.

Sara Schurmann (VICE) und Susan Djanhangard (frei, vorher Die Zeit) waren in vielerlei Hinsicht Vorbilder für mich: ideenreich, zielstrebig, geduldig. Ich habe mir oft Rat bei ihnen geholt und wir wurden Freunde. Sara ist Miterfinderin des „FMag“, für das ich gerne geschrieben hätte. Leider gab es nur eine Ausgabe ihres Hefts. Kurz darauf ging sie zu VICE – und ich kam nach.

Warum tun Sie eigentlich, was Sie tun?

Um das Leben besser zu verstehen – und um es anderen verständlicher zu machen.

 

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